© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 28/24 / 05. Juli 2024

Der Flaneur
Verliebt in Berlin
Holger Ziehm

Zugegeben, ich fühle mich in unseren Großstädten nicht mehr besonders wohl. Aber dann lasse ich mich doch mal wieder breitschlagen. Meine Frau hat mich zu einer viertägigen Städtereise in unsere Hauptstadt entführt. Man soll nicht immer so negativ sein, Berlin hat wirklich viele schöne Seiten. 

Und dieses Mal genießen wir es bei sommerlichem Wetter. Wenn man vom Alexanderplatz in Richtung Unter den Linden läuft, kommt man an eindrucksvollen historischen Gebäuden vorbei. Da ist die Marienkirche, rechts der Berliner Dom, und dann erreicht man die Museumsinsel, rechts steht das ehrwürdige Alte Museum. 

Und wir freuen uns über das wieder errichtete Stadtschloß, mit den biblischen Prophetenfiguren und natürlich auch dem Kreuz auf der Kuppel. Der Tiergarten hat es mir ja angetan. Die Baumriesen, die Teichidyllen, dann die Skulpturen mit den Jagdszenen, und gleich dahinter steht man schon an der immer wieder eindrucksvollen Siegessäule.

„Ich habe Sie ja auch nicht alter Sack genannt“, blafft die Kassiererin, ohne am Diebstahl interessiert zu sein.

Aber dann: Wir wollen uns ein paar Kleinigkeiten in einem Lebensmittelmarkt nahe bei unserem Hotel kaufen. Als wir an der Kasse warten, drängelt sich ein junger Mann an uns vorbei. Er ist mir durch sein ungewöhnliches Verhalten bereits an den Regalen aufgefallen. Er trägt einige Waren ungehindert an der Kassiererin vorbei nach draußen und radelt davon. 

Die Frau ist scheinbar abgelenkt, reagiert nicht. Als ich kurz danach an der Reihe bin, frage ich sie, ob sie den Diebstahl nicht bemerkt habe. Die Frau ist sehr unfreundlich, fast so, als ob ich der Dieb wäre. Sie wird zunehmend unverschämter, der Vorfall selber interessiert sie wohl gar nicht. Im Verlauf werde ich von ihr als „junger Mann“ tituliert. Nicht schlimm, man kennt das, oft ist es nicht mal herablassend gemeint, aber hier ist der Ton unangenehm. 

Ich sage ihr, daß ich eigentlich gar nicht so jung sei. Daraufhin höre ich: „Ich habe Sie ja auch nicht alter Sack genannt, dit verbietet mir meine Erziehung“. Endlich in der Großstadt angekommen, denke ich und möchte lieber nicht wissen, wie ihre Erziehung wirklich gewesen ist.


Alle guten Dinge haben etwas Lässiges und liegen wie Kühe auf der Wiese.

Friedrich Nietzsche

(1844–1900)