© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 28/24 / 05. Juli 2024

Der Kunst eine Gasse bereiten
Künstlergruppe: Eine Ausstellung in Görlitz erinnert an den Jakob-Böhme-Bund
Paul Leonhard

Was hat es mit dem Schicksal von Herbert von Hoerner auf sich, jenem deutschbaltischen Schriftsteller und Maler, in dessen Familiengeschichte und Biographie sich mittel- und osteuropäische Geschichte beispielhaft widerspiegelt: 1884 geboren als Sohn einer seit Jahrhunderten im Kurland ansässigen, aus dem böhmischen Egerland stammenden, mit polnischem Adelstitel versehenen und seit 1620 in die kurländische Ritterschaft eingetragenen Familie, ist Hoerner Porträtmaler in Freiburg im Breisgau, als der Erste Weltkrieg ausbricht. Als russischer Reserveoffizier wird er interniert, kämpft später in der Baltischen Landwehr gegen die Bolschewisten, wird nach der lettischen Unabhängigkeit enteignet und vertrieben, dient im Zweiten Weltkrieg als Freiwilliger als Dolmetscher in Stalingrad, in der Ukraine und zuletzt beim Festungskommandanten von Görlitz. Und damit in jener Stadt, in der er in den 1920ern seine wohl produktivste Zeit als Künstler verbracht hat.

In Görlitz wird er im Juni 1946 zusammen mit seiner Frau, der aus einer Breslauer Familie stammenden Dresdner Schriftstellerin Susanne Heintze (1890–1978), vom sowjetischen Geheimdienst verhaftet, als Baltendeutscher zwei Monate später von einem Militär-Tribunal wegen bewaffneten Aufstands und Eindringens in die Sowjetunion zum Tode verurteilt und am 26. September 1946 in Bautzen erschossen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wird Hoerner im Oktober 2002 postum von der russischen Militärhauptstaatsanwaltschaft rehabilitiert.

Dieses Schicksal wird in der neuen Sonderausstellung der Städtischen Sammlungen im Görlitzer Kaisertrutz zwar nicht erzählt, aber wenigstens gibt sie Anregung, sich mit ihm und anderen Künstlern zu beschäftigen, darunter Fritz Max Hofmann-Juan und Johannes Walter Deckwarth, die vor hundert Jahren in Görlitz lebten und heute weitgehend vergessen sind. „Die Suchenden. Die Kunst des Jakob-Böhme-Bundes“ ist die Schau überschrieben, die das Ergebnis mehrjähriger Recherchen ist.

Schuster Böhme wirkte als Mystiker 

Die seit 1945 zwischen Polen und der Bundesrepublik geteilte Neißestadt liegt in der Zwischenkriegszeit mitten in Deutschland und im Schatten der Kulturmetropolen Dresden und Breslau. Sie gilt als eher verschlafenes Pensionopolis für preußische Beamte. Daß trotzdem wichtige künstlerische Signale von ihr ausgehen, liegt an dem umtriebigen und damals bekannten Maler und Schriftsteller Joseph Anton Schneiderfranken (oder Bô Yin Râ, wie er sich mit geistigem Namen nannte), den in den letzten Jahren des Ersten Weltkriegs ebenfalls Dolmetscherdienste an die Neiße verschlagen haben.

Schneiderfranken, 1876 in Aschaffenburg geboren, Studium am Städelschen Kunstinstitut in Frankfurt am Main und Unterricht bei dem Maler Hans Thoma, wird 1916 von der Militäradministration aus dem ostpreußischen Königsberg als Griechenlandkenner nach Görlitz abkommandiert, weil dort ein komplettes griechisches Armeekorps interniert ist und er gut Griechisch spricht. Der agile Künstler, der seit den 1910er Jahren an seinem umfassenden spirituellen Lehrwerk arbeitet, beginnt sofort Gleichgesinnte um sich zu versammeln, wird Vorsitzender des Oberlausitzer Kunstvereins und gründet innerhalb dessen zusammen mit dem in Görlitz als Lehrer arbeitenden Maler Fritz Neumann-Hegenberg (1884–1924), der sich ebenfalls mit Mystik, Theosophie und expressionistischer Malerei beschäftigt, den Jakob-Böhme-Bund.

Der Namensgeber, der 1575 in einem Dorf auf der östlichen Seite der Neiße geborene Schuster und spätere Mystiker Böhme, den Georg Wilhelm Friedrich Hegel als „ersten deutschen Philosophen“ bezeichnet, weil er seine philosophischen Werke in deutscher Sprache verfaßt, hat zwar fast sein ganzes Leben in Görlitz verbracht, ist aber zu diesem Zeitpunkt in seiner Heimatstadt nahezu unbekannt und harrt der Wiederentdeckung. Ernst Bloch wird Böhme später in seinen Vorlesungen ebenfalls als „philosophus teutonicus“ würdigen und auf eine Stufe mit Paracelsus stellen.

Erneuerung der geistigen und spirituellen Kunst

Zu Lebzeiten so verehrt wie umstritten, mischt der Schuster Böhme als Mystiker und christlicher Theosoph, um es mit heutigen Worten zu beschreiben, die Stadtgesellschaft seiner Heimatstadt Görlitz so auf, daß die Obrigkeit eingreift. Letztlich erhält Böhme Schreibverbot und muß sich noch auf dem Sterbebett einem Glaubensverhör stellen.

Schneiderfranken wählt Böhme als Vorbild für die Erneuerung der geistigen und spirituellen Kunst. Zwei Jahre nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches sammelt er Künstler um sich, die die Suche nach einer von Böhmes Mystik und Theosophie angeregten neuen Sakralkunst eint, die „auf der Suche nach neuen Idealen“ sind, wie Kai Wenzel, Kunsthistoriker und Kurator der aktuellen Ausstellung, sagt: „Die Kunstwerke, die wir zeigen, sind ein Spiegelbild ihrer Zeit.“

Natürlich will Schneiderfranken 1920 auch zeigen, „daß Görlitz in der Reihe der deutschen Städte, in denen neuere künstlerische Bestrebungen am Werke sind, durchaus nicht die letzte Stelle einzunehmen gesonnen sei“.

„Wir wollen allein der Kunst eine Gasse bereiten, wo wir sie auch finden, und wir finden in jeder Richtung echte und wahrhafte Kunst, wie wir in jeder Richtung auch allerlei Scheinkunst abzulehnen haben“, erläutert Schneiderfranken anläßlich der Eröffnung einer Ausstellung von Otto Wilhelm Merseburg. Höchstes Ziel des Bundes sei es allein, daß „eine hohe Sakralkunst erstehe aus all den fragmentarischen Kunstbestrebungen unserer Tage, eine wesentlich deutsche Kunst, die vielleicht in den Miniaturisten alter Bilderhandschriften ihre frühesten Ahnen hat, und die würdig ist der tiefen Innenschau, aus der einst der Görlitzer Seher Jakob Böhme seine inbrünstig frommen Gesichte schöpfte und zu Worte werden ließ“, schreibt Schneiderfranken in der Zeitschrift Kunst – Wissen – Leben.

Tatsächlich gelingt es ihm, nicht nur Lausitzer Künstler für den Bund zu werben, sondern im gesamten deutschsprachigen Raum Mitstreiter zu aktivieren – aus den unterschiedlichsten Bereichen wie Malerei, angewandter Kunst, Zeichnung, Druckgrafik, Architektur und Literatur. Darunter auch der Breslauer Bauhaus-Architekt Hans Poelzig und die Schriftsteller Hermann Stehr, Carl Hauptmann, Gustav Meyrink. Sie fasziniert, wie in Görlitz nach dem Vorbild Böhmes „Themen der Weltreligionen aufgegriffen werden, dann wieder steht das Kosmische als der große Rahmen für das menschliche Dasein im Mittelpunkt oder auch das Verhältnis des Menschen zu Gott“, so Kurator Wenzel.

Daß sich der Bund bereits nach vier Jahren auflöste, hat zwei Gründe: Schneiderfranken emigriert 1923 in die Schweiz und Neumann-Hegenberg stirbt 1924 an Schwindsucht. Damit endet ein großes Projekt, und es fällt den Kuratoren hundert Jahre später ziemlich schwer, das Damalige zu rekonstruieren. Die Quellenüberlieferung zu den Mitgliedern des Bundes sei eher schlecht, erzählt Kurator Kai Wenzel: Es gibt kein Mitgliederverzeichnis und auch kein Archiv des Bundes. Die wichtigsten Hinweise habe man in Zeitungsartikeln aus den 1920er Jahren, entdeckt, in denen über die Ausstellungen des Bundes berichtet wird. Und die zweite Herausforderung habe darin bestanden, Werke der Künstler für die Ausstellung ausfindig zu machen. Einige seien so in Vergessenheit geraten, daß es nur mit großen Mühen gelang, ein Werk von ihnen in Privatbesitz oder in Museen zu finden.

Letztlich vereint die Sonderausstellung viele Stilrichtungen: Impressionismus, Expressionismus, Klassizismus, Neue Sachlichkeit. Insgesamt sind 120 Werke von Malern wie Neumann-Hegeberg, Hofmann-Juan, Willy Schmidt und dem Keramiker Walter Rhaue im Kaisertrutz zu sehen – und natürlich von Schneiderfranken, der 1943 in seinem letzten Wohnort Massagno im Tessin verstarb.

Bilder: Willy Schmidt, Einzug Jesu in Jerusalem, Leimfarbe auf Rupfen, 1939 (l.), Otto Engelhardt-Kyffhäuser,

Bô Yin Râ, Radierung, 1923: Beide Bilder stammen aus den Görlitzer Sammlungen für Geschichte und Kultur


Die Ausstellung „Die Suchenden. Die Kunst des Jakob-Böhme-Bundes“ ist bis zum 17. November in der Kaisertrutz Görlitz, Platz des 17. Juni 1, täglich außer montags von 10 bis 17 Uhr, Fr.–So. bis 18 Uhr, zu sehen.

 www.goerlitzer-sammlungen.de