© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 28/24 / 05. Juli 2024

Hisbollah droht mit Flächenbrand
Gazakrieg: Um weiter Herr der Lage zu sein, sollen in Israel nun Orthodoxe an die Waffen
Marc Zoellner

Beinahe neun Monate währt Israels Krieg gegen die Terrorgruppe Hamas bereits. Erfolgsmeldungen zu vermelden wird für Israels Militär und Regierung dabei immer wichtiger. Die nackten Zahlen sind dabei durchaus beachtlich, wie die Times of Israel berichtet: So erklärte die IDF zum Monatsende des Juni, seit dem 7. Oktober 2023 im Gazastreifen mehr als 15.000 Hamas-Mitglieder getötet zu haben; etwa 1.000 weitere auf israelischem Gebiet und 520 im Westjordanland. Allein in letzterer seien mehr als 1.650 Verhaftungen von Extremisten hinzugekommen. Doch die militärischen Erfolge blenden nicht das Leid der Zivilbevölkerung sowohl auf israelischer als auch auf palästinensischer Seite aus. Neben Zehntausenden zivilen Opfern hat allein der Gazastreifen den Verlust von gut 56 Prozent aller Wohngebäude zu beklagen, errechnete die BBC. Daß der Krieg gegen die Hamas militärisch nicht isoliert werden kann, sondern sich längst zum Flächenbrand entwickelt, ist auch in Jeruslam klar: Ungeachtet der erfolgreichen Abwehr eines iranischen Raketenangriffs auf Israel im April 2024 zündelt die schiitische Theokratie munter weiter in ihrer kriegseifernden Unterstützung für die Huthi im Jemen, die syrische Diktatur und die Hisbollah im Libanon.

Bereits am 8. Oktober 2023 hatte sich die Hisbollah dem Angriff der Hamas auf Israel angeschlossen. Bis Ende Juni schoß die schiitische Miliz dabei mehr als 6.000 ungelenkte Raketen auf den Nachbarstaat, von denen laut IDF mindestens 950 noch innerhalb libanesischer Siedlungen einschlugen. Trotz alledem waren auf israelischer Seite bislang über 30 Tote zu verzeichnen. Auf beiden Seiten der Grenze sind je 100.000 Zivilisten auf der Flucht. Die Raketen der Hisbollah beantwortet die IDF gewohnt mit Artilleriebeschuß sowie mit Flugeinsätzen. Eine Eskalation mittels Bodentruppen möchte Jerusalem in jedem Fall vermeiden. Nicht so die Hisbollah: „Es besteht große Angst seitens des Feindes, daß der Widerstand in Nordisrael einmarschieren würde, und dies ist durchaus möglich“, drohte Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah Mitte Juni mit einem Krieg „ohne Regeln und Beschränkungen“. Dies nicht nur gegen Israel, sondern auch gegen Zypern, sollte der Inselstaat seine Infrastruktur für die IDF freigeben.

Verbal sieht sich die israelische Regierung dieser Drohung bereits gewappnet. „Wir haben die Möglichkeit, den Libanon in die Steinzeit zurückzuversetzen,“, gab Israels Verteidigungsminister Joaw Galant vergangenen Mittwoch während eines Washington-Besuchs vor Journalisten zu Protokoll. „Aber wir wollen es nicht tun. Wir wollen keinen Krieg führen, weil das nicht gut für Israel ist.“ 

Der benötigten Mannstärke für den Ernstfall eines Bodeneinsatzes könnte nun ein brisantes Urteil des Obersten Gerichts zuarbeiten, welches vergangene Woche in Jerusalem verkündet wurde: Nach dem 7. Oktober hatte Israel mehr als 300.000 Reservisten zum Dienst an der Waffe einberufen. Allerdings waren hiervon traditionell sowohl arabische Israeli als auch jüdische Tora-Studenten ausgenommen; eine Praxis, die zuletzt die israelische Regierung im Juni 2023 per Dekret verlängerte. 

Daß dieses Dekret die Rechtsbefugnisse der Regierung überschreite, erklärten nun die Jerusalemer Richter. Rund 63.000 junge Tora-Studenten leben derzeit in Israel. Noch in diesem Jahr, mahnte Generalstaatsanwalt Gali Baharav-Miara die IDF in einem Schreiben, müßten davon rund 3.000 der Orthodoxen zum Wehrdienst verpflichtet werden. Zwar könnte die Regierung über eine weitere Ausnahme verfügen, bis das Urteil rechtskräftig ist. Die Times of Israel berichtete hingegen, daß sich bereits mehrere Abgeordnete der regierenden Likud-Partei einer solchen Abstimmung widersetzen wollten. Seit Gründung des Staates Israels waren orthodoxe Juden vom Armeedienst befreit.

Und noch ein Urteil des Obersten Gerichts sorgt derzeit in Israel für rege Diskussion: Im Dezember 2023 hatte Israels Staatsprüfer Matanyahu Englman eine ausführliche Untersuchung zu den Umständen angekündigt, aus welchen sowohl die IDF als auch der israelische Inlandsgeheimdienst Schin Bet auf sämtlichen Ebenen bei der Frühaufklärung des Hamas-Angriffs im Vorfeld des 7. Oktober versagten.

 Immerhin hatten nicht nur einzelne Militärbeobachter an der Grenze zu Gaza von einem erhöhten Trainingspensum der Nukhba-Einheiten eine Woche vor dem Massaker berichtet. Ein detaillierter Angriffsplan mit dem Codenamen „Mauern von Jericho“ soll der IDF laut Recherchen der New York Times bereits ein Jahr vor dem Angriff zugespielt worden, jedoch nie beachtet worden sein. Überdies hatte der Gaza-Sender „Hamas TV“ schon im Jahr 2022 eine Fernsehserie gleichen Inhalts abgespielt.