Draußen viel Krawall, drinnen viel Harmonie. So knapp und doch wahrheitsgemäß könnte ein Bericht über den AfD-Bundesparteitag am vergangenen Wochenende ausfallen. Ursprünglich hatte sich die Stadt Essen von der Partei vertraglich zusichern lassen wollen, daß bei der Zusammenkunft in der Gruga-Halle keine strafbaren Äußerungen fallen dürften. Andernfalls drohte man mit einer Konventionalstrafe. Dem hatte bekanntlich das zuständige Verwaltungsgericht rasch ein juristisches Ende bereitet. Angesichts der gegensätzlichen Szenen vor und in der Halle wirkte das Ansinnen der Verwaltung von Oberbürgermeister Thomas Kufen (CDU) noch bizarr. Denn während auch ohne den rechtswidrigen Vertragszusatz von den knapp 600 Delegierten keinerlei strafbare Äußerungen, ja überhaupt keine Straftaten aktenkundig wurden, lautet die Bilanz bei den Gegenprotesten: 143 Strafanzeigen wegen gewalttätiger Störaktionen und 28 verletzte Polizisten – ein Beamte erlitt sogar schwere Kopfverletzungen durch Tritt. Pfefferspray und Schlagstock mußten die Ordnungshüter einsetzen, um das Recht durchzusetzen. 22 Personen wurden in Gewahrsam genommen, zwei weitere vorläufig festgenommen.
Schon vor Beginn des Parteitags vermittelte der Stadtteil Rüttenscheid eine Ahnung von Ausnahmezustand: Überall Absperrgitter, teilweise mit Sichtblenden, viele Polizisten, Wasserwerfer. Tankstellen hatten den Betrieb eingestellt. Ringsum versperrten Bauzäune die Zufahrt zu den Zapfsäulen. Anwohner mußten sich ausweisen, wollten sie in den abgeriegelten Sektor gelangen. Das alles, wohlgemerkt, nicht wegen der AfD, sondern wegen des gewaltbereiten Teils ihrer Gegner. In der Masse – von angeblich 70.000 Protestteilnehmern sprachen die Veranstalter – war es ein Happening aus Musik, Redebeiträgen und „Flaggezeigen“.
Doch auch militante und vermummte Antifagruppen zogen durch die Straßen, machten Jagd auf AfD-Delegierte und behelligten zum Teil auch Journalisten. Augenzeugen schilderten beängstigende Situationen. Doch das Ziel, den Parteitag zu verhindern oder auch nur nennenswert zu verzögern, erreichten die Gewaltbereiten nicht. „Wir sind hier – und wir werden bleiben“, rief Parteichefin Alice Weidel bei ihrer Begrüßungsrede in den Saal und erntete begeisterten Applaus. Das, was sich vor der Halle abspielte, habe mit Demokratie nichts zu tun, empörte sie sich.
Empörung war indes nicht die dominierende Gefühlsregung im Innenraum der Grugahalle. Dort, wo neun Jahr zuvor in erhitzter Stimmung faktisch die Spaltung der jungen AfD besiegelt wurde und Parteigründer Bernd Lucke nach der Niederlage gegen Frauke Petry mit seinen Getreuen auszog. Damals setze sich bei der Wahl in den Bundesvorstand eine noch unbekannte Volkswirtin namens Alice Weidel mit 52,6 Prozent gegen Rechtsausleger André Poggenburg durch. Lange her, die Genannten sind in der AfD längst Geschichte – nicht so Weidel.
Mit 79,7 Prozent wurde die Vorsitzende nun wiedergewählt, genau wie ihr „geliebter Co-Sprecher“ Tino Chrupalla, der gar 82,7 Prozent erreichte. Und damit die vorab kursierenden Gerüchte, sein Posten könne im Fall einer Einerspitze wackeln oder er werde den Zorn enttäuschter Anhänger des kaltgestellten ehemaligen Europa-Spitzenkandidaten Maximilian Krah zu spüren bekommen, Lügen strafte. Erfolg auf ganzer Linie für den Mann, der im Rechenschaftsbericht einen satten Mitgliederzuwachs meldete und den baldigen Sprung über die 50.000er-Marke ankündigte.
In ein paar Stunden stand der gesamte neue Bundesvorstand. Wie am Schnürchen wurde eine Tage zuvor schon kursierende Konsensliste durchgewählt. Mit Ausnahme des letzten Beisitzerpostens brauchten die Delegierten dafür nur einen Wahlgang. Beide Spitzenämter gingen ohne Gegenkandidaten und – besonders erstaunlich – sogar ohne Aussprache oder kritische Fragen durch. Die endlosen Debatten, unzähligen Geschäftsordnungsanträge, Nein-Stimmen-Kampagnen oder aussichtslose Nonsens-Kandidaturen – nichts davon gab es in Essen, was sonst AfD-Parteitage zäh in die Länge zog. Kein Wutgeschrei, kein Übereinanderherfallen. „Das ist der langweiligste Parteitag, den ich erlebt habe“, meinte ein Delegierter augenzwinkernd.
„Manchmal taktische Auswechslungen notwendig“
Nur am zweiten Verhandlungstag schimmerte in Nuancen die „alte“ AfD durch. Beim Thema Schiedsgericht ging es zuweilen schärfer zu an den Saalmikrofonen, fielen in einem Wahlgang mal wieder beide Bewerber durch, wurden alte Frontstellungen erkennbar. Aber das blieben Einzelfälle. Ansonsten galt die Devise: strittige Fragen abmoderieren, Debatten beenden, Konflikte einfrieren. Gelöst seien die Probleme dadurch natürlich nicht, betont ein Parteifunktionär.
Die Frage, ob es sinnvoll sei, das Amt eines Generalsekretärs – bei gleichzeitigem Wegfall der Doppel- und Übergang zur Einerspitze – einzuführen, hatte ihr Aufregerpotential schon dadurch eingebüßt, daß zuvor die bisherigen Parteivorsitzenden ohne jegliche Kratzer beide im Amt bestätigt wurden. Nun liegt das Thema – wie von erfahrenen Funktionären vorab prophezeit – bei der Satzungskommission. Gleiches gilt für die strittige Frage, die Kandidaten für das Europaparlament künftig mit Landeslisten zu bestimmen.
Woran liegt es, daß dieser Parteitag in Essen so anders ablief? Es habe sich, so lautet eine verbreitete Erklärung, mittlerweile ein neuer Typus von Funktionären etabliert und Netzwerke oder Gesprächsfäden über unterschiedliche innerparteiliche Strömungen und Landesverbände hinweg geknüpft. Bei ihnen dominiere der Anspruch, professionell und pragmatisch zu sein. So werde ausgehandelt, was geht und was nicht. Die Absprachen hielten inzwischen besser; auch weil es das gemeinsame Interesse gebe, „die Spinner rauszuhalten“. Kaum eine Rolle spielten inzwischen die Protagonisten der alten innerparteilichen Lager. Wie zum Beweis trat Thüringens Landeschef Björn Höcke am Wochenende in Essen kaum in Erscheinung.
Mehr moderieren, das sei der Anspruch, meinte auch Alice Weidel gegenüber der JUNGEN FREIHEIT. Für die konfliktträchtige „Causa Krah“ hatten ihre Berater in der Rede ein aktuell passendes Bild aus dem Fußball entworfen. Um sich auf den Gegner einzustellen, müsse das „Trainergespann“ gelegentlich „taktische Auswechslungen“ vornehmen. Das gelte „für Publikumslieblinge ebenso wie für ehrliche, disziplinierte Arbeiter“. Aber „wer auf der Ersatzbank sitzen muß, fliegt nicht gleich automatisch aus dem Kader“.
Der Verlauf des Parteitags ist nachzulesen unter www.JUNGEFREIHEIT.de/politik/deutschland/2024/liveticker-zum-afd-parteitag-in-essen/
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Der neue AfD-Bundesvorstand:
Tino Chrupalla (Sachsen)
Alice Weidel (Baden-Württemberg)
Stephan Brandner (Thüringen)
Peter Boehringer (Bayern)
Kay Gottschalk (Nordrhein-Westfalen)
Carsten Hütter (Sachsen)
Alexander Jungbluth (Rheinland-Pfalz)
Dennis Hohloch (Brandenburg)
Marc Jongen (Baden-Württemberg), Martin Reichardt (Sachsen-Anhalt), Dirk Brandes (Niedersachsen), Heiko Scholz (Hessen),
Roman Reusch (Brandenburg), Hannes Gnauck (Brandenburg/Junge Alternative Bundesvorsitz)
Fotos: In Essen gewählte Parteispitze der AfD: Gruppenbild mit einer Dame, Polizisten, linksradikale Demonstranten