© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 28/24 / 05. Juli 2024

„Das wäre ein Donnerschlag“
Interview: Erobert der Rassemblement National am Sonntag erstmals die Regierungsmacht? Steht Frankreichs Rechte vor dem Durchbruch? Oder geht die Partei Macron in die Falle? Davor warnt Mickaël Fonton, Chefredakteur des konservativen Magazins Valeurs actuelles
Moritz Schwarz

Herr Fonton, wird Jordan Bardella der erste Premierminister des Rassemblement National? 

Mickaël Fonton: Er selbst ist davon überzeugt, daß ihm das gelingen kann.

Sagen Politiker so etwas vor der Wahl nicht immer? 

Fonton: Es scheint mir kein Kommunikationstrick zu sein. Er bereitet sich tatsächlich bestmöglich darauf vor, das Amt zu übernehmen. Entscheidend sind aber natürlich die Zahlen und Fakten am Sonntag abend, wenn die Wahllokale schließen. 

Und was werden die uns nach dem 33-Prozent-Sieg des RN in der ersten Runde nun verheißen?  

Fonton: Spontan fällt mir schwer zu glauben, daß er die Zahl seiner Abgeordneten wirklich verdreifachen kann, um die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung, zu erringen, die 289 Sitze beträgt. Offensichtlich ist aber die extreme Dynamik der Partei, die der erste Wahlgang belegt und wonach dem RN nun über 250 Sitze vorhergesagt werden.

Sollte es doch für die 289 Sitze reichen, welche Bedeutung hätte ein Sieg Bardellas? 

Fonton: Das wäre eindeutig ein Donnerschlag! Das Gewitter mag sich seit Jahren zusammenbrauen und absehbar sein, daß es sich früher oder später entlädt – aber der Moment, in dem der erste Blitz herniederfährt, ist gleichwohl nie unbedeutend.

Aber wird es dem RN tatsächlich auch gelingen, den Cordon sanitaire, die „Brandmauer“, zu durchbrechen?  

Fonton: Tatsächlich ist der Cordon sanitaire bereits zerfetzt, und jene, die noch daran zerren, tragen – vielleicht ohne sich dessen bewußt zu sein – dazu bei, seine völlige Auflösung zu beschleunigen. Dennoch wäre es natürlich ein starkes Symbol, käme mit dem RN eine Partei an die Macht, die lange Zeit als die „Bête immonde“ galt. 

Pardon, als was? 

Fonton: „Bête immonde“, als abscheuliche Bestie. Nun darf man sich aber freilich nichts vormachen: RN-Chef Bardella hat keinen Zauberstab, um Frankreich aus dem Schlamassel zu erlösen, in das es über vierzig Jahre durch eine unverantwortliche Politik geraten ist. Das wird mehr erfordern als nur den Willen zur Erneuerung.

Nicht nur das, anders als in Deutschland steht in Frankreich dem Regierungschef zudem ein mächtiger Staatschef gegenüber: Was könnte ein Premierminister Bardella überhaupt gegen Präsident Macron durchsetzen?

Fonton: Das hat Bardella vergangene Woche noch einmal in unserem Magazin Valeurs actuelles wiederholt: Auf keinen Fall sei er der „Mitarbeiter“ Präsident Macrons, sondern werde die Regierung leiten und die Politik des Landes bestimmen – und dabei darauf achten, daß die Stimme Frankreichs gegenüber dem Ausland nichts an Klarheit einbüßt: Niemand hat Interesse an einer Kakophonie.

Macron möchte, so die Vermutung, den RN in die Regierung holen, um ihn zu „entzaubern“: In drei Jahren, so angeblich sein Kalkül, hätte sich der RN abgenutzt und verlöre wieder an Stimmen. Was verhindern könnte, daß Marine Le Pen die Präsidentschaftswahl 2027 gewinnt. Geht diese Kabale auf?

Fonton: Das könnte in der Tat die Wette sein, wird aber wohl aus mehreren Gründen nicht funktionieren. Erstens ist die Bewegung, die den Rassemblement National – den ehemaligen Front National – trägt, nicht zufällig zusammengewürfelt, sondern entspringt der genannten, seit Jahren schwelenden politischen Krise. Das geht über die Person Bardellas und sogar Le Pens hinaus. Zweitens ist Macron selbst verbraucht, und seine Partei „Ensemble“, die nicht wirklich eine ist, sondern eher ein Präsidentenwahlverein, wird den „Tod“ des Chefs nicht überleben. 

Warum nicht?

Fonton: Er kümmert sich kaum darum, da er mit der überraschend ausgerufenen Neuwahl seinen möglichen „Dauphin“ – also Thronfolger – Premierminister Gabriel Attal quasi im Fluge abgeschossen hat. Sollte Bardella (legitimerweise) Federn im Matignon-Abenteuer lassen, ...

... das „Hôtel Matignon“ ist der Sitz des Premiers ... 

Fonton: ... würde dies Marine Le Pen nur am Rande betreffen – eben das ist ja der Sinn der Doppelkonstellation Bardella-Le Pen, die der RN in den letzten Jahren aufgebaut hat!

Sie bezweifeln selbst, daß der RN die absolute Mehrheit erringt. Ist aber ohne diese eine Übertragung der Regierung an ihn nicht ein Danaergeschenk?

Fonton: Keine absolute Mehrheit in der Assemblée nationale zu haben, wäre in der Tat ein Problem und zusätzliche Belastung. Es sei denn, man kann auf ein „Polster“ an Abgeordneten – etwa der „Republikaner“ oder sogar Macrons „Ensemble“-Partei – zählen, die bereit sind, mit dem RN zu stimmen. Was angesichts der Ausfälle des gegnerischen Lagers der „Nouveau Front populaire“ (NFP) ...

... also der zur „Neuen Volksfront“ vereinigten Linken ...

Fonton: ... nicht unmöglich ist. Das wäre dann sozusagen eine fast absolute Mehrheit. Denn es wird dabei nur um wenige Abgeordnete gehen.

Ist nicht denkbar, daß der RN die Regierungsübernahme ausschlägt, wenn ihm die absolute Mehrheit fehlt? 

Fonton: Selbst wenn, er wird dennoch, wie schon Anfang Juni bei der Europawahl, die führende Kraft werden und damit die stärkste Partei: Ich sehe nicht – so meine persönliche Meinung –, daß sich das Matignon damit ablehnen und eine Zwitterlösung finden läßt. Zudem würde Emmanuel Macron, der den RN nur zu gerne mit einer Nationalversammlung konfrontiert sähe, die diesem das Regieren schwermacht, darauf bestehen, daß er die Regierungsverantwortung annimmt – und ihm damit in die „Falle“ geht. Denn lehnt der RN ab, setzt er sich dem Vorwurf der Schwäche und Feigheit aus. Nein, soweit ich sehe, kann sich der Wahlsieger nicht davor drücken, auch wenn sich das Regieren als komplizierter als gedacht herausstellt. Sollte die zweite Runde am Sonntag die Assemblée nationale allerdings noch stärker spalten, als wir derzeit erwarten, könnte man sich auch einen Konsenskandidaten beziehungsweise „technischen“ Premierminister, wie man so schön sagt, vorstellen, der die laufenden Geschäfte führt.

Sie meinen keinen des RN, sondern einen lagerübergreifenden Kompromißkandidaten der Parteien der Linken, Mitte und etablierten Konservativen. 

Fonton: Ja, doch muß ich gestehen, daß mir die mögliche Identität des oder der Unglücklichen unbekannt ist. Allerdings kann es eigentlich nicht sein, daß Frankreich dann drei Jahre nicht wirklich regiert werden wird – dafür ist die Lage zu ernst!

Sollte es doch so kommen, welche Partei würde diesen Kandidaten stellen? 

Fonton: Denkbar ist ein Politiker der Republikaner, der sowohl mit dem RN wie auch mit dem macronistischen Lager kompatibel wäre, und sich wechselnde Mehrheiten suchen würde. Aber nochmal, ich glaube nicht daran. Auch weil es sich nicht negativ auf die Chancen Marine Le Pens für die Präsidentenwahl auswirken würde. 

Was, wenn Macrons eventuelle Entzauberungs-Kabale scheitert? Was würde ein dann wahrscheinlicher Sieg Le Pens 2027 bedeuten? 

Fonton: Aus heutiger Sicht wäre das ein noch krachenderer Donnerschlag als der, von dem ich schon sprach. Allerdings könnte es auch sein, daß in den drei Jahren bis dahin die Normalisierung des RN vollzogen ist und die Wahl Le Pens folglich wie eine Selbstverständlichkeit erscheinen würde.

Hierzulande ist unvorstellbar, daß die etablierte Politik die Regierungsübernahme der AfD forciert, auch nicht zum Zweck des Entzauberns. Keiner würde den Proteststurm überleben. Droht das nicht auch Macron?

Fonton: Ich sagte schon, der Cordon sanitaire ist in Auflösung, ist nur noch ein Wort, ein leeres Ritual. Je mehr er beschworen wird, desto mehr verleitet es die Wähler, für den RN zu stimmen, oder bestärkt diese Absicht. Die AfD kenne ich zu wenig, um die Parallele zu beurteilen. Richtig ist aber, daß es einen Aufschrei auslösen wird, vor allem in der politischen und medialen Intelligenzija. Nur hören die Franzosen dieser nicht mehr zu – daher auch ihre Wahl-entscheidung. Dennoch bleibt diese einflußreich, so daß in der Tat der Sonntag zu einer Krise an der Spitze des Staats und unserer Institutionen führen kann. Das alles verspricht sehr lebhafte Olympische Spiele – die ja ab Ende Juli in Frankreich stattfinden.

Bleibt es bei der Schlappe für Ensemble (in der ersten Runde nur 20 Prozent), die Republikaner (10 Prozent), also die etablierten Konservativen, und Reconquête (0,7 Prozent), die Partei Eric Zemmours, der rechts des RN steht, wäre das dann das Ende dieser Parteien? 

Fonton: Ich habe die 577 Wahlkreise nicht en détail untersucht, aber ohne ein Prophet zu sein, läßt sich sagen, das Lager des Präsidenten wird einer ziemlich drastischen „Schlankheitskur“ unterzogen. Und Reconquête kämpft in der Tat ums Überleben, selbst wenn sie nicht hinter der Nullnummer der Nationalversammlungswahl 2022 zurückbleibt. 

Bei der sie zwar noch 4,2 Prozent, aber aufgrund des französischen Wahlrechts keinen einzigen Sitz erlangte.

Fonton: Wenn Zemmours Partei die politische Landkarte Frankreichs richtig analysiert hat, kann sie nun vielleicht ein paar Wahlkreise gewinnen. Doch ist das keineswegs sicher, und die Tragikomödie, die der Auflösung der Assemblée nationale folgt, ist wohl ein schlechtes Omen. Bei den Republikanern bin ich dagegen optimistischer, auch wenn sie ebenfalls am Ende zerrissen dastehen werden. Doch ist die Partei nach wie vor territorial gut vernetzt und könnte von Wählern profitieren, die vom Macronismus enttäuscht sind, sich aber nicht vorstellen können, für RN oder NFP zu stimmen.

Wie wirkt sich das Zerwürfnis zwischen Zemmour und Marion Maréchal aus – der Nichte Marine Le Pens –, die er gerade aus der Reconquête geworfen hat, weil sie nun zur Wahl des RN aufruft? 

Fonton: Ganz klar sehr schlecht. Doch bleibt Maréchal Europaabgeordnete, sie ist sehr jung und gilt vielen als Gralshüterin der wahren RN-Werte. Es ist daher schwer vorstellbar, daß ihre politische Zukunft in Gefahr ist – es sei denn, sie selbst zieht sich zurück, wie sie es ja schon einmal getan hat. Zemmours Situation ist dagegen komplizierter; für ihn scheint es schwierig zu sein, eine stabile Partei aufzubauen. So wird er wohl ein Freischärler bleiben, der nur für die Präsidentenwahl taugt. Wie es auch bei Marines Vater Jean-Marie Le Pen seinerzeit in gewisser Weise gewesen ist – allerdings stand der FN-Gründer damals isoliert am äußerst rechten Rand des politischen Feldes, während die extreme Rechte heute an der Schwelle zur Macht steht, was Zemmours Spielraum stark einschränkt. Eine Regierung Bardella, so sie kommt, müßte sich schon als katastrophal erweisen, etwa indem sie unfähig ist, die Lage des Landes zu bessern, damit Zemmour 2027 Aussichten hätte. Doch „die Zukunft liegt nicht mehr in kleinen Parteien und individuellen Abenteuern“, schrieb Bardella vor der Europawahl in Valeurs actuelles, und man muß zugeben, ihr Ausgang hat ihm recht gegeben.

Was müßte aus Sicht Ihres Blattes eine rechte Regierung in Frankreich grundlegend ändern?

Fonton: Die Kontrolle über die Einwanderung – legale und illegale – wiedererlangen sowie über die „verlorenen Gebiete“ im Land; was eine langwierige Aufgabe ist, bei der Ordnungskräfte und Justiz unerschütterlich unterstützt werden müssen. Auch die Schule muß neu gestaltet werden, Stichwort: Autorität, Anforderungen und Wissen. Dem „Fortschritts“-Wahn, der unsere anthropologischen Grundlagen in Frage stellt, ist Einhalt zu gebieten und die öffentliche Finanzierung von Organisationen, die der Nation offen feindlich gesinnt sind, zu beenden – ebenso wie die „Erpressung“ von Mittelschicht und produktivem Sektor und vieles mehr.

Und würde ein Premier Bardella das alles leisten?

Fonton: Der RN sagt, er will es tun, und er verfügt dann auch über die technischen Mittel dazu. Aber die Macht bleibt eine besondere Erfahrung. Zwar gibt es an sich keinen Grund, warum er die Zusagen nicht einhalten sollte, aber Sie kennen ja die Enttäuschungen, die man auf der Rechten schon erlebt hat. Ich glaube aber dennoch nicht, daß der RN seine Grundüberzeugungen preisgeben wird.

Der RN gilt als wenig deutschfreundlich. Was würde seine Regierung für unsere Beziehungen bedeuten? 

Fonton: Sein erster Auslandsbesuch werde Olaf Scholz gelten, hat Bardella jüngst unserem Magazin anvertraut. In der Tat ist Zusammenarbeit wichtig, für unsere beiden Länder und für Europa. Doch unter der Bedingung, daß wir über Worte hinausgehen und den Energiekrieg beenden: Die Zukunft der europäischen Stromversorgung liegt in der Kernenergie. Die Energiewende – Wind und Sonne sei gleich Gas und Braunkohle – ist dagegen eine Sackgasse! 

In den USA wird mit Blick auf die Präsidentenwahl am 5. November die Frage gestellt, ob das Land in Zukunft politisch zerfallen, gar ein Bürgerkrieg ausbrechen könnte. Wie steht es diesbezüglich um Frankreich?

Fonton: Bürgerkriege sind Ereignisse, die oft erst im nachhinein klar vor Augen treten. Im Augenblick aber weiß man nie, ob man in eine solche historische Phase eintritt. Was sich sagen läßt, ist, daß in Frankreich das „Gemeinsame“ selten geworden ist. Im ganzen Land und vor allem in mehreren hundert Stadtvierteln, den berüchtigten „Zonen der Gesetzlosigkeit“ – die in Wirklichkeit Zonen eines anderen Rechts sind –, bedeutet „Frankreich“ nichts mehr: es ruft nur noch Aggressionen, bestenfalls Gleichgültigkeit und Unverständnis hervor. Es wird sehr schwierig, diese Gebiete zurückzuerobern, da die integrativen Mechanismen, insbesondere die Schule, in sehr fragilem Zustand sind. Eine oder zwei Generationen sind schon verloren. Nun gilt es, die Blutung zu stoppen – doch ist es selbst dafür schon gefährlich spät ...



Mickaël Fonton ist seit 2016 einer von zwei Chefredakteuren des französischen Nachrichtenmagazins Valeurs actuelles. Der Diplom-Journalist und vormalige Physik-Lehrer wurde 1977 in Lens im Artois, heute Département Pas-de-Calais, geboren.  www.valeursactuelles.com