© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/24 / 28. Juni 2024

Er hatte die Seele eines Flüchtlings
Walter Isaacson hat nach dem Tod Henry Kissingers seine Biographie über den US-Außenminister aktualisiert
Filip Gaspar

Henry Kissinger hat die Politik über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten maßgeblich beeinflußt. In verschiedenen Rollen – als US-Außenminister, Berater, Professor an der Harvard-Universität und Autor – war sein Leben eng mit den historischen Ereignissen im 20. Jahrhundert verwoben. Walter Isaacson, renommierter Bestsellerautor, wirft in seiner Biographie ein Licht auf die komplexe Persönlichkeit dieses Mannes, seine außenpolitischen Aktionen und die Ideen, die bis heute von Bedeutung sind. Diese intime Erzählung enthüllt überraschende Details über den vielschichtigen Staatsmann, von seiner Kindheit als verfolgter Jude im NS-Deutschland über seine schwierige Beziehung zu US-Präsident Richard Nixon bis hin zu seinen späteren Jahren als international agierender Berater in Unternehmen.

Der Journalist und Sachbuchautor Walter Isaacson hat Biographien über Albert Einstein, Leonardo da Vinci, Steve Jobs und Elon Musk verfaßt. Seine bereits 1993 veröffentlichte Biographie über Henry Kissinger liegt nun nach dessen Tod im November 2023 in einer neuen, lesenswerten Ausgabe vor.

Kissinger, ein Einwanderer, der Ruhm und Reichtum erlangte, wird in Isaacsons umfassender Chronik porträtiert. Das Buch bietet einen Überblick über seine Karriere und seinen großen Einfluß auf die US-Außenpolitik. Isaacson beurteilt diese vielfach kritisch, das Buch ist keine Lobeshymne. Die Ursprünge von Heinz Alfred Kissinger im fränkischen Fürth bis zu seinem Aufstieg in den USA und seine prägende Zeit in der Armee werden aufgezeigt. Wie er beispielsweise 1938 als Fünfzehnjähriger auf der Flucht vor dem NS-Regime mit seiner Familie nach New York kam und sechs Jahre später als Soldat nach Deutschland zurückkehrte. Seine Harvard-Zeit deutet der Autor bereits als Vorbereitung auf seine spätere Rolle in der Weltpolitik.

Doppelzüngig, arrogant, aber auch ein Genie in der Außenpolitik

Der Vietnamkrieg stellte Kissingers analytische Fähigkeiten auf die Probe, als er 1965 in den Konflikt geriet und Verhandlungen unterstützte, jedoch keine Rückzugsmaßnahmen forderte. Unter Nixon wurde er 1968 zum nationalen Sicherheitsberater ernannt, was eine Verschiebung in seiner Persönlichkeitsentwicklung markierte. Kontroversen um seine Rolle während der Nixon-Kampagne und geheime Friedensgespräche in Paris warfen Fragen zur Glaubwürdigkeit auf. Isaacsons Werk konzentriert sich auf die Partnerschaft zwischen Nixon und Kissinger, geprägt von Paranoia und Verschwörung. 

Kissinger war eine schwierige Persönlichkeit, seine Unsicherheit, sein Ego und Größenwahn  äußerten sich in oft in Wutanfällen. Kissinger gewann dennoch Nixons Gunst durch unterwürfiges Verhalten. Seine Rolle als Architekt der dunklen Seite Nixons bei geopolitischen Ereignissen wie den Vietnam-Verhandlungen und dem Putsch in Chile wird kontrovers diskutiert. Kritik richtet sich auf seine „realpolitische Sichtweise“. Kissingers Beitrag zu Watergate und später dem Iran-Contra-Skandal wird ebenfalls beleuchtet. 

Ein zwiespältiges Bild von Kissinger zeichnet sich ab: doppelzüngig, arrogant, aber auch ein Genie in der Außenpolitik. Kissinger wurde zu einem globalen Superstar und erhielt zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen. Nach seiner politischen Karriere wurde Kissinger ein „Staatsmann zum Mieten“, gründete erfolgreich Kissinger Associates und erreichte Ruhm und Reichtum.

Es wäre jedoch zu oberflächlich, Kissingers Ehrgeiz lediglich als reinen Machthunger und Ruhmsucht zu betrachten. Auch seine persönlichen Erfahrungen als Jude, der vor dem Nationalsozialismus floh, und der schwierige Weg der Integration in die amerikanische Gesellschaft haben wohl zu diesem starken Drang nach Anerkennung beigetragen. Ein Kollege aus Harvard, Arthur Schlesinger, schrieb ihm einmal „die Seele eines Flüchtlings“ zu, was zweifellos einen tieferen Einblick in die komplexe Persönlichkeit von Kissinger gewährt.

Auch Kissingers innerliche Unsicherheiten und Realpolitik-Praktiken, die er mit Nixon teilte, werden thematisiert. Trotz kritischer Einschätzungen wird Kissinger in manchen Abschnitten in ein Pantheon mit Vorgängern als Außenminiter wie Dean Acheson und George C. Marshall gestellt. Jedoch betont der Autor auch, daß Kissinger mit Fritz Kraemer, dem einflußreichsten Deutschen im Pentagon von 1952 bis 1978, seinen Mentor verlor, der ihn zu Karrierbeginn immer protegierte. Nach einem Zerwürfnis in den siebziger Jahren wechselten die beiden Politiker, deren Emigrantenschicksal sie verband, kein Wort mehr miteinander. 

Walter Isaacson: Kissinger. Biografie. Finanzbuch Verlag, München 2024, gebunden, 880 Seiten, 27 Euro