© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/24 / 28. Juni 2024

Musterbild eines Bürgers
Am 20. Juni ist der große deutsche Historiker Lothar Gall verstorben
Hans-Christof Kraus

Die Position des führenden Neuzeithistorikers in Deutschland ist schon seit einiger Zeit verwaist. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm der politisch unbelastete Gerhard Ritter diese Position, anschließend Theodor Schieder – und endlich, seit etwa Mitte der 1980er Jahre, Lothar Gall. Schon seit etwa einem Jahrzehnt schwer erkrankt, ist er nun, am 20. Juni dieses Jahres, im Alter von 87 Jahren in Wiesbaden verstorben.

Die Rolle des letzten großen Repräsentanten der deutschen Geschichtswissenschaft konnte tatsächlich niemand anderes so gut ausfüllen wie er, der 1936 in Ostpreußen als Sohn eines kurz vor Kriegsende gefallenen Generals geborene Gelehrte, der bei aller Bildung und bei allem enormen Fleiß das unverkennbare Auftreten eines Offiziers besaß, der sich immer kerzengerade hielt und dessen Leutseligkeit doch stets auf Distanz bedacht war. Als langjähriger Herausgeber des führenden Fachorgans, der Historischen Zeitschrift, als Präsident der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften sowie als Träger höchster Auszeichnungen und Preise, darunter des Großen Bundesverdienstkreuzes mit Stern, des Balzan-Preises und des Leibniz-Preises, nahm er mit großem Selbstbewußtsein die ihm zugefallene Position ein.

Zugefallen war sie ihm – das mußten auch seine Kritiker zugeben – keineswegs zu Unrecht, denn seine zielstrebig verfolgte Karriere brachte ihn aufgrund außerordentlicher Leistungen schon mit 32 Jahren auf einen Lehrstuhl an der Universität Gießen, wenige Jahre später in gleicher Position an die Freie Universität Berlin und 1975 schließlich nach Frankfurt am Main; dieser Universität sollte er drei volle Jahrzehnte lang bis zum Ruhestand treu bleiben. Das war insofern kein Zufall, als Liberalismus und Bürgertum zu den zentralen Lebensthemen gehörten, denen sich Gall in seiner wissenschaftlichen Arbeit immer wieder aus verschiedenen Blickwinkeln zugewandt hat; die Stiftungsuniversität des Frankfurter Bürgertums war und blieb für ihn daher die angemessene Wirkungsstätte.

Auch ein weiteres seiner zentralen Forschungsthemen hatte mit Frankfurt zu tun: Otto von Bismarck, der bekanntlich seine Karriere als Diplomat und Politiker einst als junger preußischer Gesandter an der Versammlung des Deutschen Bundes in der seinerzeit noch freien Frankfurter Stadtrepublik begonnen hatte. Galls 1980 erschienene Bismarck-Biographie machte ihn schlagartig über die engeren Fachgrenzen hinaus bekannt. Die Bedeutung seines Buches lag vor allem darin, daß er den Reichsgründer weder – wie nach 1945 oft üblich – als Wegbereiter kommenden Unheils deutete, noch einer der früheren Formen des deutschen Bismarck-Kults huldigte. Im Gegenteil: Der Gründungskanzler Deutschlands wurde von Gall als Politiker mit herausragenden Leistungen porträtiert, dessen Werk freilich ebenfalls von schweren Fehlern und am Ende von Selbsttäuschungen gekennzeichnet war. Der „Weiße Revolutionär“, wie Gall ihn im Anschluß an Henry Kissinger nannte, mußte erkennen, daß die von ihm mit in Gang gesetzte politische Bewegung am Ende über die von ihm begründete Ordnung – gedacht als Kompromiß zwischen Altem und Neuem – hinwegging.

Die von Gall auf den Weg gebrachte intensive Erforschung der Geschichte des älteren und neueren deutschen Bürgertums und des europäischen Liberalismus hat ihn ebenfalls jahrzehntelang beschäftigt. Seine Dissertation über den französischen Liberalen der Napoleonzeit, Benjamin Constant, und seine Habilitation über den „Liberalismus als regierende Partei“ im Großherzogtum Baden hatten hier bereits wichtige Vorarbeiten geleistet. Als Summe seiner Forschungen darf jedoch die 1989 im Siedler Verlag erschienene umfangreiche Monographie „Bürgertum in Deutschland“ gelten, in der Gall die Verbindungslinien zwischen Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum im deutschen 19. Jahrhundert am Beispiel der bekannten Mannheimer Familie Bassermann exemplarisch darstellte – neben dem Bismarck-Buch sein zweites Meisterwerk.

Die von Gall in Frankfurt begründete und geleitete Forschungsgruppe „Stadt und Bürgertum im 19. Jahrhundert“ war denn auch der Konkurrenz von links, angesiedelt an der Universität Bielefeld, weit überlegen, weil Gall und seine Schüler statt sich an Bürgertumstheorien der neueren Soziologie abzuarbeiten empirisch und quellennah vorgingen, indem sie die Geschichten des Bürgertums jeweils sehr unterschiedlicher deutscher Städte seit der frühen Neuzeit in umfangreichen Fallstudien rekonstruierten und dabei erkannten, daß es in Deutschland eben nicht „das“ Bürgertum, sondern regional überaus unterschiedliche „Bürgertümer“ gegeben hat. Die Einzelmonographien etwa über München (Ralf Zerback), Bremen (Andreas Schulz), Wetzlar (Hans-Werner Hahn), Frankfurt am Main (Ralf Roth), Münster (Susanne Kill), Wiesbaden (Thomas Weichel), Köln (Gisela Mettele), Augsburg (Frank Möller) und Dortmund (Karin Schambach) sind heute Standardwerke.

In späteren Jahren ging Gall noch zur Wirtschaftsgeschichte über; er schrieb nicht nur die Biographie von Hermann Josef Abs, sondern gleich auch die Frühgeschichte der Deutschen Bank bis 1914, sodann die Geschichte der deutschen Eisenbahn sowie die des Weltunternehmens Krupp. Das wohl bedeutendste seiner späten Werke, erschienen 2009, galt Walther Rathenau, an dessen Lebensweg Gall das „Porträt einer Epoche“ erkennbar machen wollte. In diesem faszinierenden Buch zeichnet er die Konturen eines wilhelminischen Reiches nach, das eben nicht rückwärtsgewandt, sondern, im Gegenteil, in fast allen Bereichen der sich entwickelnden Moderne Spitzenleistungen vollbrachte.

Der Historiker Lothar Gall, der seit den 1960er Jahren als Gelehrter ein günstiges Zeitfenster erwischte, das sich dem wissenschaftlichen Nachwuchs in Deutschland öffnete, hatte nur gelegentliche Niederlagen hinzunehmen. Die von ihm konzipierte Ausstellung „Fragen an die deutsche Geschichte“ im Reichstag in West-Berlin vor 1989 hatte ihn weithin bekannt gemacht, sein Eintreten für Frankfurt am Main als neue deutsche Hauptstadt nach der Wiedervereinigung hingegen erwies sich als genuiner Fehlgriff. Die 150-Jahr-Feier der Münchner Historischen Kommission endete wegen einer – unter seiner Ägide von Frankfurter Historikern begonnenen – stark fehlerhaften Edition der Briefe des Kommissiongründers Leopold von Ranke mit einem krassen Fehlschlag.

Ungeachtet dessen bleiben die bedeutenden Leistungen dieses Ausnahmegelehrten, der auf dem Höhepunkt seiner Karriere in den Jahren 1992 bis 1996 auch den Deutschen Historikerverband als Präsident leitete, als maßstabsetzende Werke großer Geschichtsschreibung unangefochten bestehen. Gelegentlich hat Gall sich Theodor Mommsens berühmte Formulierung „Ich wünschte ein Bürger zu sein“ zu eigen gemacht – und in der Tat: Lothar Gall war ein Bürger, nicht nur als Musterbild eines leistungsorientierten Bildungsbürgers traditionellen Zuschnitts, sondern auch als tiefe Spuren hinterlassender Angehöriger der deutschen Gelehrtenrepublik.


Prof. Dr. Hans-Christof Kraus lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Passau.

Foto: Lothar Gall