© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/24 / 28. Juni 2024

Phantasierter „Röhmputsch“
Mit einem Doppelschlag gegen die ausscherende SA und die konservative Opposition konnte Hitler die Formierung des „Führerstaates“ im Sommer 1934 abschließen
Erik Lommatzsch

In undurchdachten historischen Bußgesten lauern mitunter böse Fallen. Bundestagspräsidentin Bärbel Bas erklärte zum Holocaustgedenktag 2023, dieses Mal stelle man als „Opfergruppe“ Menschen in den Mittelpunkt, „die von den Nationalsozialisten aufgrund ihrer sexuellen Orientierung“ verfolgt worden seien. Damit hat die Bundesrepublik Deutschland am Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz auch Ernst Röhms und einer Reihe weiterer SA-Führer gedacht. Schließlich war Homosexualität in den offiziellen Verlautbarungen des NS-Regimes einer jener Gründe für deren Ermordung vom 30. Juni bis zum 2. Juli 1934, die – unzutreffend – in der Regel als „Röhmputsch“ bezeichnet wird. 

Mit den Maßnahmen, die der Abwehr des angeblich bevorstehenden Putsches dienten, konnte die NS-Führung, insbesondere Hitler selbst, zugleich mehrere, zum Teil ineinandergreifende Entwicklungen abwenden, die die eigene Machtstellung spätestens seit Frühjahr 1934 massiv bedrohten. Unzufriedenheit mit den wirtschaftlichen Zuständen hatte sich bemerkbar gemacht. Über Versorgungsengpässe, die Inkompetenz der neu eingesetzten Funktionäre und Regulierungen mit teilweise desaströsen Folgen, etwa durch den „Reichsnährstand“, wurde vielerorts geklagt. Die für die Regime-Spitze wichtige Unterscheidung in der Bevölkerung zwischen Hitler und den Verfehlungen nachgeordneter NS-Chargen – „Wenn das der Führer wüßte!“ – drohte verloren zu gehen.

Als besonderes Problem stellte sich die SA dar. Unabdingbar bei der Machteroberung, standen die braunen Einheiten auch danach durch eine beträchtliche Reihe von Willkürakten im Ruf der Unberechenbarkeit. Mit viereinhalb Millionen Mitgliedern stellte die SA unter dem ambitionierten Stabschef Ernst Röhm einen beträchtlichen Machtfaktor dar. Nur ein Drittel der Männer gehörte der NSDAP an. Eine große Zahl der einfachen Mitglieder hatte mit der Etablierung des NS-Regimes weitreichende materielle Hoffnungen verbunden, sie sahen sich nun enttäuscht. Rufe nach einer „zweiten Revolution“ mehrten sich, der vor 1933 weitgehend ausgeschaltete antikapitalistische Strang der NS-Bewegung lebte wieder auf. All dies war nicht im Sinne der Regierung Hitlers. Dazu kamen Röhms Forderungen, „seine“ SA als Volksmiliz zu etablieren. Die Reichswehr sah sich in ihrem Anspruch bedroht, alleiniger „Waffenträger der Nation“ zu sein. Röhm wollte den „grauen Fels“ der Reichswehr in der „brauen Flut“ untergehen sehen. Für Hitlers längerfristige Pläne war die Reichswehr mit ihrem Potential jedoch von wesentlich größerer Bedeutung. Die SA, so führte er aus, sei „der politisch gestaltende Willensträger“, es sei nicht ihre Aufgabe, „der anderen großen Institution irgendwie Konkurrenz zu machen“. Im Februar 1934 kam es zu einer Art offizieller Aussöhnung, Hitler sprach sich gegen die Miliz aus, mit Handschlag zwischen Röhm und dem Reichswehrminister Werner von Blomberg wurde das Ganze besiegelt. 

Kritik blieb nahezu aus, die Morde beförderten Hitlers Popularität

Auch wenn Röhm danach vollmundig meinte, was der „lächerliche Gefreite“ erklärt habe, gelte nicht, so stand er doch ungebrochen loyal zu seinem „Führer“, den er als einer von ganz wenigen mit „Du“ ansprechen durfte und an dessen Rückhalt er bis zuletzt naiv glaubte. Hitler seinerseits ließ bereits seit Anfang 1934 Material gegen die SA sammeln. SS-Chef Himmler und der Leiter seines Sicherheitsdienstes Reinhard Heydrich trugen erheblich dazu bei, Belastendes zusammenzustellen, ungeachtet der Tatsache, daß die SS zu dieser Zeit noch der SA unterstellt war.

Bedroht sah sich das Regime noch aus einer anderen Richtung. Nachdem das Vorhaben der Konservativen gescheitert war, Hitler im Zuge seiner Machtübernahme zu „zähmen“, hatte sich um Vizekanzler Franz von Papen eine Gruppe formiert, die unter maßgeblicher Mitwirkung des Pressechefs Herbert von Bose daran arbeitete, die instabile Situation zu nutzen, um der politischen Entwicklung in Deutschland doch noch eine andere Richtung zu geben. Auch die Restauration einer Monarchie stand zur Debatte. Man hoffte, Reichspräsident Paul von Hindenburg und die Reichswehr gewinnen zu können. Höhe- und zugleich Endpunkt dieser Bestrebungen war die von Edgar Julius Jung verfaßte Rede, die Vizekanzler Papen am 17. Juni 1934 in der Marburger Universität hielt. Nahezu sensationell wurde Kritik am „Dritten Reich“ geübt. Ein „falscher Personenkult“ sei geschaffen worden, die „Anmaßung“ unter „dem Deckmantel der deutschen Revolution“ wurde angeprangert. Die Verbreitung der Rede vermochte Propagandaminister Joseph Goebbels nicht zu verhindern.

Für Hitler galt es nun, loszuschlagen und sich sowohl der SA in der bestehenden Form als auch der konservativen Opposition zu entledigen. Für den 30. Juni 1934 wurde eine von Reihe SA-Führern vorgeblich zwecks eines Treffens ins bayerische Bad Wiessee beordert, wo sich Röhm zu einer Kur aufhielt. Unter dem Vorwand, die SA habe einen Putsch geplant, nahmen zwei Kompanien der Leibstandarte SS Adolf Hitler, die von der Reichswehr mit Waffen ausgestattet worden war, Verhaftungen und wenig später Hinrichtungen vor. Hitler selbst stürmte das Zimmer Röhms, der wie andere SA-Führer völlig überrascht war. In der gleichen Pension wurde Edmund Heines mit seinem Liebhaber im Bett angetroffen. Goebbels sprach von „fast Brechreiz verursachenden Szenen“ und nutzte die – lange allseits bekannte – Homosexualität in den höheren SA-Kreisen scheinheilig, aber propagandistisch wirksam als eine Begründung für die „Reinigung“. 

Zum Teil vorbereitet, zum Teil willkürlich wurden an verschiedenen Orten Gegner beseitigt. Als das Kommando mit dem von seiner Hochzeitsreise abgefangenen SA-Gruppenführer Karl Ernst in Berlin eintraf, war die Nachricht über seinen Tod bereits in den Zeitungen zu lesen. Die Konservativen in der Vizekanzlei wurden kurzerhand in die Repressalien einbezogen. Bose starb, gleichfalls Jung, der schon nach Papens Rede verhaftet worden war. Das Regime entledigte sich auch weiterer Kritiker wie des ehemaligen Reichskanzlers Kurt von Schleicher, dessen Vertrautem Ferdinand von Bredow oder des Leiters der Katholischen Aktion Erich Klausener. Es kam zur Bereinigung von privaten Händeln und Verwechselungen. Röhm wurde am 1. Juli erschossen, bis zum 2. Juli dauerte das Vorgehen der SS an. Die Akten wurden vernichtet, namentlich nachweisbar sind 85 Opfer, Schätzungen sprechen von bis zu 200 Toten im Zusammenhang mit dem „Röhmputsch“.

Per Gesetz wurde die Aktion als „Staatsnotwehr“ am 3. Juli 1934 für rechtens erklärt. Hitler behauptete im Reichstag: „In dieser Stunde war ich verantwortlich für das Schicksal der deutschen Nation und damit des Volkes oberster Gerichtsherr!“ Der prominente Staatrechtler Carl Schmitt sekundierte mit dem Aufsatz „Der Führer schützt das Recht“.

Für Hitler erwies sich der Doppelschlag als voller Erfolg. Das Regime war stabilisiert, Gegner waren beseitigt, die SA als unsicherer Machtfaktor in die Schranken gewiesen. Die SS wurde dem „Führer“ direkt unterstellt. Das Vorgehen beförderte Hitlers Popularität. Kritik blieb nahezu völlig aus, auch dort, wo sie zu erwarten gewesen wäre. Daß mit Schleicher und Bredow zwei Generale ermordet worden waren, nahm die Reichswehr hin. Die Maßnahmen zur Abwendung des herbeiphantasierten Putsches gelten als Abschluß der Formierung des „Führerstaates“.


Foto: SA-Treffen in Dortmund mit Ernst Röhm (3.v.r.) und Heinrich Himmler (l.) 1933: Das Regime war stabilisiert, Gegner waren beseitigt, die SA als unsicherer Machtfaktor in die Schranken gewiesen