Alle Massenbewegungen, die von links genauso wie die von rechts, haben es auf die Jugend abgesehen. Die Kinder sollen die Vergangenheit hinter sich lassen, dem erwählten Führer folgen und fahnenschwingend der Sonne, dem Licht, dem kommenden Tag entgegenziehen. Eltern sind verdächtig, sind unerwünscht, sie stehen für das Gestrige, das Überholte und blockieren die Innovation. Dem Fortschritt und der Zukunft zugewandt, waren und sind diese Bewegungen durchweg kinderfreundlich, aber familienfeindlich.
In der neuen, der klassenlosen Gesellschaft werde es für die Familie keinen Platz geben, hatte Friedrich Engels vorausgesagt, und Adolf Hitler hatte ihm recht gegeben. Nur die Partei sei befugt, den Mann und die Frau zu führen, „die Lebensbedingungen der Geschlechter regeln wir, das Kind bilden wir!“ hatte er verkündet. Im nationalsozialistischen Führerstaat würden die Kinder ihren Müttern genauso gehören „wie im selben Augenblick auch mir“.
Den Führern von damals sind die Führer*innen von heute gefolgt. Lisa Paus, die sich lieber Gesellschafts- als Familienministerin nennen hört, macht etwa da weiter, wo ihre Vorgänger aufgehört hatten. Mit vollem Recht hat sie die Kindergrundsicherung als das größte sozialpolitische Bauvorhaben der Ampel-Regierung bezeichnet. Sie erhebt Anspruch auf den ganzen Menschen, will ihn schon in der Wiege packen, um ihn im Sarg erst wieder loszulassen. Kindergeld, Elterngeld, Bürgergeld, Krankengeld, Pflegegeld, Sterbegeld – die Reihe nimmt kein Ende.
Immerzu steht ein Amtsinhaber neben dem Bürger und sagt ihm, was er zu tun hat. Frau Paus träumt offenbar denselben Traum wie ihre Wegbereiter, die nationalen und die internationalen Sozialisten, nennt ihn nur anders. Sie will den Bürger an die Hand nehmen und ihm bei jedem Schritt ins Ohr singen: You’ll never walk alone. Wenn sie von Service, Bringschuld und Betreuung spricht, meint sie mehr Macht für sich und weniger für alle anderen. Sie will die Familie nicht fördern, sie möchte sie ersetzen.
Das Grundgesetz steht dem entgegen. Es sagt der Familie seinen besonderen Schutz zu, nennt Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen, den Eltern, obliegende Pflicht. Seitdem das Bundesverfassungsgericht diesen besonderen Schutz auf alle möglichen Gemeinschaften mit und ohne Kinder ausgeweitet hat, hat die Bestimmung an Gewicht verloren; was man mit aller Welt teilen muß, kann ja nichts Besonderes mehr sein. Väter und Mütter heißen nun nicht mehr Eltern, sondern Elternteile, durchnumeriert nach den Ordnungsziffern eins, zwei oder drei. Sie gelten als Dauerbezugspersonen, auch das aber nur auf Zeit, da sie durch andere Personen, zweite Mütter oder dritte Väter, jederzeit ersetzt werden können.
Sofern sie darauf bestehen, ihre Kinder selbst zu erziehen, sollten sie einen Erziehungsführerschein erwerben, ausgestellt von irgendeinem Service-Unternehmen im Auftrag des Staates. Auch damit sind die Vorkämpfer der Chancengleichheit aber längst noch nicht am Ziel. Elternhäuser neigen ja dazu, die Ungleichheit auf ihre Kinder zu vererben. Und das ist schlecht, weil es das Ideal der Egalitaristen, die gleichmäßig gemähte Rasenfläche, immer wieder in die Ferne rückt.
Der Amerikaner Christopher Jencks, eine der Leuchten der modernen Erziehungswissenschaft, hatte das Phänomen entdeckt. Solange die Gesellschaft nicht dazu bereit sei, das Band zwischen Eltern und Kindern völlig zu zerschneiden, werde sie sich mit einem gewissen Maß an Chancenungleichheit abfinden müssen, hatte er festgestellt. Das klang nach Vorsicht oder Fatalismus; doch davon sind die Grünen weit entfernt. Sie haben versprochen, mehr Fortschritt zu wagen, und sie wagen ihn auch: schon heute kann ein Drittel der Kinder am Ende der vierjährigen Grundschulzeit allenfalls unvollkommen lesen und schreiben. Beides sei letztlich überflüssig, meinen bekennende Grüne, da sich die ehemals so genannten Kulturtechniken durch den Gebrauch von Google und IT ersetzen ließen. Daß die Kinder damit abhängig werden, abhängig von irgendwelchen fremden Mächten, wird Lisa Paus so lange ganz recht sein, wie sie auf dem Bock sitzt und die Zügel führen kann.
Die progressiven Parolen, Chancengleichheit, kompensatorische Erziehung und so weiter, sind längst vergessen und verbraucht. Nachdem er seinen Unterricht zur leistungsfreien Zone ausgerufen hatte, gab ein Gesamtschullehrer auf die Frage, wo seine Schüler denn nun Lesen und Schreiben lernen sollten, die originelle Antwort: Zu Hause! So ist es dann ja auch gekommen. Die Bildungsreformer haben den Abstand zwischen oben und unten nicht etwa schrumpfen lassen, sie haben ihn vergrößert. Wer kann, gleicht das, was ihm die Schule schuldig geblieben ist, zu Hause aus. Wer das nicht kann, geht zur Nachhilfe, die sich im Zuge der Schulreform zu einem milliardenschweren Industriezweig entwickelt hat. Wem das eine fehlt und das andere zu teuer ist, ist arm dran.
Für Grüne ist das ein Grund mehr, der Familie das Wasser abzugraben. Sie wollen das Eigene – die eigenen Eltern, die eigenen Kinder, die eigene Sprache, die eigene Kultur – enteignen, gesamtgesellschaftlich verduften und verschwinden lassen. Der Staat soll an die Stelle der Familie treten und die Kinderarmut in ihrer doppelten Gestalt, die Armut an Kindern und unter Kindern, bekämpfen – ein Phänomen, das er doch aber selbst hervorgebracht, zumindest allerdings begünstigt hat, indem er die Rentenversicherung als eine Maschine konstruierte, die den Verzicht auf Kinder zum Geschäft macht.
Wozu in Kinder investieren, wenn die Sache nicht lohnt, weil man sich von fremder Leute Kindern genauso gut versorgen, füttern oder pampern lassen kann? Man spart dann selbst und läßt die anderen bezahlen. Der umverteilende Sozialstaat hat die Kinderarmen und die Kinderlosen, die Merkels und die Scholzens an die Macht gebracht. Leute wie sie lassen die Zukunft auf die eigene Lebenszeit zusammenschnurren und sagen sich wie die Marquise von Pompadour: Nach uns die Sintflut! Alte Leute, hat Bernard Shaw einmal bemerkt, sind gefährlich, weil ihnen die Zukunft vollkommen egal ist.
Patricia Schlesinger, die ehemalige Rundfunkintendantin, der ihre Geldgier zum Verhängnis geworden ist, gibt ein Beispiel. Sie zog vor Gericht, um ihre maßlosen Versorgungsansprüche in Höhe von gut 20.000 Euro – monatlich, nicht etwa jährlich! – einzuklagen, das Zehn- bis Fünfzehnfache der sogenannten Eckrente. Wie viele Renten-
arbeiter demnächst schuften müssen, um diese Summen Monat für Monat und Jahr für Jahr aufzubringen, wissen wir nicht, werden wir wohl auch nie erfahren, weil die riesigen Umverteilungs-Ströme, die den einen geben und den anderen nehmen, unterirdisch fließen. Wenn sie ans Licht treten, weiß kein Mensch, woher sie kommen, wer was zu ihnen beigetragen hat und wer von ihnen profitiert. Die Rentenversicherung arbeitet zeitversetzt, sie hat die Ausbeutung durch die Transferausbeutung ersetzt, durch die moderne, anonyme, unsichtbare Form von Sklaverei.
Daß ein Koloß, der von immer weniger jungen Leuten verlangt, immer mehr Alte auskömmlich zu versorgen, auf tönernen Füßen steht, weiß jedes Kind. Die Zeit rückt näher, in der diese Wahrheit offenbar werden und die Kinder rebellisch machen könnte. Um das zu verhindern, hat der Bundestag immer wieder neue Ablenkungsmanöver ersonnen, eines der letzten war das Rentenversicherungs-Leistungsverbesserungs- und -Stabilisierungsgesetz, ein Monstrum von fünfundzwanzig Silben. Aber auch dieses Monstrum wird an der versicherungsmathematisch garantierten Wahrheit, daß der Generationenvertrag ein Betrug und die Rentenversicherung pleite ist, nicht viel ändern. Die Sicherheit, die Norbert Blüm und alle seine Nachfolger den Rentnern versprochen haben, gibt es nicht. Sicher ist nur, daß die Kranken, die Hinfälligen und die Hochbetagten von morgen erheblich schlechter dastehen werden als die von heute. Und daß die nachwachsenden Generationen für dies beschämende Ergebnis staatlicher Prophylaxe immer mehr aufbringen müssen als alle ihre Vorgänger.
Denn jetzt erreicht die Nachkriegsgeneration der sogenannten Babyboomer den sogenannten Ruhestand. Keine Generation hat weniger für Kinder getan als sie, keine hat aber auch üppigere Renten- und Pensionsansprüche angehäuft als sie: Ansprüche, die nun gewahrt, gesichert und bedient werden müssen – von Kindern, die sie selbst nicht hatten. Deswegen mogeln sie.
Er kenne keinen Enkel, hat Sozialminister Hubertus Heil behauptet, der seinem Großvater die Rente mißgönne. Warum sollte er auch? Er zahlt ja nur zurück, was er bekommen hatte, die Rechnung stimmt also. Im Fall der sozialpolitischen Schnäppchenjäger, die ernten wollen, wo sie nicht gesät hatten, stimmt die Rechnung aber nicht. Damit sie trotzdem aufgeht, wird umverteilt. Ohne den harten Rückgriff auf das Zukunft-Kapital der Kinder stünden die Rentenpolitiker schon bald mit leeren Händen da. Um das zu vermeiden, müssen die Kinder allen gehören. Und deshalb investiert der Staat in Kinder.
„Jedes Kind ist dem Staat gleich viel wert“ hieß es früher. Nicht jedes, müßte es heute heißen. Am meisten investiert der Saat in die UMAs, die unbegleiteten minderjährigen Ausländer, die in Scharen nach Deutschland strömen. Für Heimbetreiber ist das eine gute Nachricht, denn für einen UMA, verrät einer von ihnen, zahlt der Staat bis zu 300 Euro – am Tag! Er freut sich über diese Geschäftsidee, mit der sich in kurzer Zeit üppige Gewinne einstreichen lassen, staatlich garantiert. Denn der Staat liebt die UMAs, die heimatlosen, orientierungslosen, elternlosen Kinder. Sie gehören ja ihm.
Wenn sie mit ihrer Lage nicht zurechtkommen, die Nerven verlieren und um sich schlagen, stechen oder schießen, wird das als Kollateralschaden der Willkommenspolitik verbucht, dem durch forcierte Integrationsmaßnahmen abzuhelfen ist. Der Verdacht, daß es unmenschlich sein könnte, die Menschenrechte dadurch einzulösen, daß man den Menschen ihre Wurzeln kappt, kommt diesen Menschenfreunden nie.
Dr. Konrad Adam, Jahrgang 1942, war Feuilletonredakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Chefkorrespondent der Welt. Adam beteiligte sich 2013 an der Gründung der Alternative für Deutschland (AfD) und war bis 2015 einer ihrer Bundessprecher.