© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/24 / 28. Juni 2024

Ein Stern, der nicht mehr strahlt
Immer zwischen Diesseits und Jenseits lebend: Ein Gedenkblatt zum 300. Geburtstag des Vaterlandsdichters Friedrich Gottlieb Klopstock
Wolfgang Müller

Im krassen Unterschied zu der mit zahlreichen Veröffentlichungen und Ausstellungen inszenierten Erinnerung an Kant und Kafka wird der dritte „Herr K.“, dessen Name in diesem Jahr den Festkalender des Feuilletons schmückt, günstigstenfalls flüchtige Beachtung finden. Ein Geschick, das Friedrich Gottlieb Klopstock, geboren am 2. Juli 1724 in Quedlinburg, gestorben im März 1803 in Hamburg, schon 1888 von Franz Muncker, dem Verfasser der ersten umfassenden, wissenschaftlichen „Geschichte seines Lebens und seiner Schriften“, prophezeit worden ist: „Daß unser Volk Klopstocks Werke jemals wieder mit wahrer Teilnahme lesen wird, steht nicht zu erwarten.“ Sei doch zum Teil schlicht ungenießbar und unverständlich geworden, was der von den Zeitgenossen einst Vergötterte geschaffen habe.

Auch der Literaturwissenschaftler Klaus Hurlebusch, dem es als Initiator und Mitherausgeber der 1974 gestarteten, auf 36 Bände angelegten, bisher nicht abgeschlossenen historisch-kritischen „Hamburger Klopstock-Ausgabe“ wahrlich nicht an Enthusiasmus fehlte, den Wegbereiter der Weimarer Klassik im kollektiven Gedächtnis zu verankern, leitete 2003 seine jetzt zum Jubiläum fast unverändert wieder aufgelegte schmale Biographie resignativ mit dem Diktum ein: „Ein Stern erster Ordnung, der nicht mehr strahlt.“

Neue Einsichten allein für den germanistischen Fachdiskurs

Wie also rechtfertigt der Bielefelder Germanist Kai Kauffmann sein ambitioniertes Unternehmen, pünktlich zum 300. Geburtstag für diesen nahezu erloschenen Stern Klopstock neues Interesse wecken zu wollen und „die erste Gesamtdarstellung seit Muncker“ zu wagen?  

Über die Chancen, den Vergessenen zu reanimieren und ihn im Schulunterricht zu plazieren oder ihm auf dem Buchmarkt neue Leserschichten zu erschließen, gibt sich Kauffmann keinen Illusionen hin. Im selbst für Goethe und Schiller schrumpfenden Literaturkanon des Deutschunterrichts ist Klopstock nahezu getilgt, ändern lasse sich daran nichts. Im Buchhandel sind zwei Reclam-Hefte lieferbar, eine Auswahl von Klopstocks Oden und die ersten drei Gesänge seines Lebenswerks, des christlichen Versepos „Der Messias“. Zwei vorbildliche Editionen der poetischen und publizistischen Schriften, 1956 in der DDR von Arno Sachse, 1962 in der Bundesrepublik von Karl August Schleiden veranstaltet und von Friedrich Georg Jünger mit einem hymnischen Nachwort versehen, sind seit Jahrzehnten nur noch antiquarisch zu bekommen.

Obwohl sich für Kauffmann der eine oder andere Hoffnungsschimmer, etwa die Wiederkehr der Odendichtung bei einigen Lyrikern der jüngsten Generation, sich am literarischen Horizont abzeichnet, stand für ihn zu Arbeitsbeginn doch wohl fest, daß seine Biographie neue Einsichten allein in den germanistischen Fachdiskurs würde einspeisen können. Was nicht gegen die von Hurlebusch immer wieder geltend gemachte „Notwendigkeit einer kontinuierlichen Vergegenwärtigung“ Klopstocks spricht, um die Lücken in der literarhistorischen Erinnerung an das 18. Jahrhundert nicht noch größer werden zu lassen. Was wiederum aber nur jene Gebildeten stört, die mit Joachim Ritter gegen alle Erfahrung dem optimistischen Glauben huldigen, geisteswissenschaftliche Forschung könne helfen, den kulturellen Nährboden der Herkunftswelt, auf dem sich die Freiheit substantiellen Selbstseins in Demokratien entwickelt, davor zu bewahren, im Mahlstrom des kapitalistischen „Systems der Bedürfnisse“ (Hegel) zu verschwinden.

Um Kauffmanns Resultate kritisch zu würdigen, ist ein kurzer Rückblick auf dominierende Tendenzen der Klopstock-Rezeption seit dem 250. Geburtstag hilfreich. Dabei ist zwischen dem religiösen und dem patriotischen Dichter zu unterscheiden. Als die ersten Gesänge seiner Messiade 1748 erschienen, die das Leben des Jesus von Nazareth vom Einzug in Jerusalem bis zum Kreuzestod, zur Auferstehung und zur triumphalen Himmelfahrt in 20.000 Hexameter-Versen schildert, war die weltdeutende Vorherrschaft der christlichen Religion noch fast ungebrochen. Wie der tiefgläubige Christ Klopstock lebte die Mehrheit der alteuropäischen Bevölkerung immer zwischen Diesseits und Jenseits und konnte sich nicht vorstellen, ohne transzendente Sinnbezüge auszukommen. Abzulesen an der Buchproduktion: 1740 lag der Anteil religiöser Erbauungsbücher, eine Gattung, in die der „Messias“ fällt, bei 70, die belletristischer Werke bei 30 Prozent. 1774, als endlich mit dem 20. Gesang der „Messias“ vollständig im Druck erschienen war, hatte sich das Verhältnis exakt umgekehrt. Der rasante Prozeß der Säkularisierung aller Glaubensinhalte und der Schwund religiöser Orientierung waren kurz vor Ausbruch der Französischen Revolution weit vorangeschritten. Und mit dem christlichen Gott geriet auch der sich als „Dolmetscher Gottes“ verstehende Klopstock ins Abseits, dessen Versepos schließlich Gegenstand vieler religionshistorischer Exegesen und Rekonstruktionen wurde, so daß Kauffmann hier in den drei Kapiteln kaum Funken schlägt, die sich der „Messias“-Arbeit in der „Schreibwerkstatt“ des „deutschen Pindar“ widmen.

Programme zur Erweckung eines deutschen Nationalbewußtseins 

Bemerkenswerter ist in diesem Rahmen allerdings seine den „Messias“ mit Goethes Faust vergleichende Interpretation. Ausgehend von der Gretchenfrage im „Urfaust“ – der entsteht als Klopstock den „Messias“ abschließt – an ihren schurkischen Galan Heinrich Faust: „Wie hast du’s mit der Religion?“ Der antwortet mit einem Sermon, wonach der Glaube nichts, das Gefühl alles sei, so daß die christlichen Glaubenswahrheiten sich für das arme Mädel im pantheistischen Nebel auflösen. Trotzdem findet selbst dieser atheistische alte Sünder im Schluß von Faust II Erlösung. In der Nußschale weniger Verse demonstriert Kauffmann hier einen Weltbildwandel, der an Radikalität nichts zu wünschen übrigläßt. Denn Faust benötigt keinen Mittler mehr, um ins Himmelreich zu gelangen, weil er zur Selbstvollendung fähig ist. Während in Klopstocks „Messias“, der immerhin dadurch skandalös von der orthodoxen Lehre abweicht, daß er einem Teufel den Weg aus der ewigen Verdammnis eröffnet, an der Theologie von Weltschöpfer und Weltgericht festhält, geht Goethe den letzten Schritt hin zur sich faktisch selbst erlösenden autonomen Persönlichkeit, die das Diesseits so exzessiv als seine Heimat bejaht, daß er keine jenseitige mehr kennen will.

Klopstock, dem vaterländischen Barden, dem Autor kulturpatriotischer Programme zwecks Erweckung des „Deutschbewußtseins“, dem Verfasser einer Hermann-Trilogie, die den Cheruskerfürsten Arminius als Befreier von der Römerherrschaft feiert, dem Quellensucher, der sich um die Wiederbelebung der nordischen Mythologie bemüht, um dem neuhumanistischen Weimarer Griechen- seinen Germanentraum entgegenzusetzen, wendet sich Kauffmann mit mehr Leidenschaft als dem religiösen Sänger zu. Denn dieses andere Ich Klopstocks, dessen „teutonische“ Schaffensphase in den 1760ern, gleichzeitig mit dem Erscheinen der ersten, nach einem deutschen Nationalbewußtsein verlangenden Schriften einsetzt, war im 20. Jahrhundert wesentlich heftiger umstritten als der religiöse Prediger. So gab Muncker, der den politischen Klopstock klein hielt, den Takt vor, dem viele folgten, wenn er dessen „teutonischen Mißgriff“ und den „übertriebenen Patriotismus“ rügte, über dessen Germanen und ihre Kultur man selbst um 1900 noch wenig wußte, weil es an Ausgrabungen fehlte. Kein Wunder, daß es sich bei Klopstocks Germanen historisch in Wahrheit um skandinavische Stämme handelte. Ganz übel stieß dem monarchistischen Ordinarius Muncker zudem Klopstocks Haß auf Friedrich den Großen auf.

Erst der in den 1930ern an der Technischen Hochschule Danzig lehrende, auf „Vorposten“ gegen den polnischen Chauvinismus stehende, großdeutsch timbrierte Wiener Germanist Heinz Kindermann brach mit dieser negativen Bewertung des patriotischen Sängers. Indem er ins andere Extrem verfiel und den Christen, der nie Zweifel daran ließ, daß Gott vor der Nation rangiert, zum Vordenker der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft stilisierte. 

Unter linken Vorzeichen erlebten dann Kindermanns Anachronismen fröhliche Auferstehung in der bundesdeutschen Nationalismus-Forschung, die Klopstocks Parteinahme für das Eigene auf niedrigstem Niveau als „Fremden- und Ausländerfeindlichkeit“ denunzierten. Noch die von Klopstocks Lyrik angefeuerten studentischen Freiwilligen ziehen als ordinäre Fremdenfeinde gegen Napoleon ins Feld.      

Der DDR-Germanistik ist die Korrektur solcher primitiven Konstruktionen zu danken. Sie hat auch das emanzipatorische, gegen den deutschen Feudalabsolutismus gerichtete Potential der Idee von der „germanischen Freiheit“ erschlossen. Dem folgt nun Kauffmann, wenn er die humanitäre Botschaft der Hermann-Dramen konturiert und auf die Vision des Cheruskerfürsten hinweist, die auf die Befreiung aller Menschen zielt, die von Römern zu Sklaven gemacht wurden, nicht nur auf die der Germanen.

Wie im Märchen werfen sich zum Schluß die verbrüderten Völker in eine Art Weltbürgerkrieg gegen alle Tyrannen dieses Planeten. Nach dieser Lesart erhält der politische, dem „Wahn der Menschheitslehre“ (Max Kommerell, 1928) verfallene Klopstock dann doch ein unverhofft zeitgeistiges, zur bundesdeutschen Regenbogenrepublik passendes Relief.


Kai Kauffmann: Klopstock. Eine Biographie. Wallstein Verlag, Göttingen 2024, gebunden, Abbildungen, 420 Seiten, 36 Euro

Historische Illustration von Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803)