© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/24 / 28. Juni 2024

Auf leisen Sohlen kommt der Tod
Literatur: Mit reichlich Kulturkritik gewürzt sind die Reflexionen eines Sterbenden in Bernhard Schlinks neuem Roman „Das späte Leben“
Dietmar Mehrens

Mit 51 Jahren gelang dem Juristen Bernhard Schlink 1995 ein Sensationserfolg, der sein Leben nachhaltig verändert hat: „Der Vorleser“ erschien, eine mit deftigen Sex-Szenen gewürzte Liebesgeschichte über eine NS-Verbrecherin und einen jungen Mann, der sich mit ihr auf ein erotisches Abenteuer einläßt. 2008 wurde der Roman mit dem von Detlev Buck entdeckten David Kross und „Titanic“-Star Kate Winslet fürs Kino verfilmt – ebenfalls ein Welterfolg.

Seither gelingt Schlink, der vorher mit den Kriminalgeschichten um den Privatdetektiv Gerhard Selb schon einigermaßen erfolgreich war, regelmäßig der Sprung auf die Liste der Belletristik-Verkaufsschlager. Von der ist sein aktuelles Buch „Das späte Leben“, ein halbes Jahr nach seinem Erscheinen, zwar inzwischen wieder verschwunden. Doch wenn nächstes Jahr die Taschenbuchausgabe kommt, gelingt dem stets bescheiden gebliebenen Autor vermutlich die Rückkehr. Es lohnt sich also, den Roman, der wie immer bei Schlink in sehr schlichtem und schmucklosem Deutsch verfaßt ist, zu würdigen.

Für den Helden sieht es von Anfang an übel aus

„Das späte Leben“ sticht in mehr als einer Hinsicht aus dem Werk des im Raum Bielefeld zur Welt gekommenen Schriftstellers heraus. Die äußere Handlung beschränkt sich auf ein Minimum. Und für den Helden, den Juristen Martin Brehm, sieht es von Anfang an übel aus. Er wird mit der ernüchternden Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs konfrontiert. Wer Schlinks Novellensammlung „Sommerlügen“ kennt, kann sich am ehesten ein Bild von dem Roman machen. Darin gibt es nämlich mit „Der letzte Sommer“ eine ähnliche Geschichte: Ein Mann hat von seinem bevorstehenden Tod erfahren und die gesamte Familie zu sich eingeladen, um gleich nach diesem letzten Beisammensein Selbstmord zu begehen. Die Vergeblichkeit, das große Thema des Existentialismus, drückt sich in Sätzen wie diesem aus: „Alles, was ihn beschäftigt hatte, war ein verklingender Ton geworden.“ Das Zitat stammt nicht aus „Der letzte Sommer“. Es stammt aus „Das späte Leben“. Hineingepaßt hätte es in beide.

Im Englischen gibt es den Begriff der „Bucket List“. Es ist zugleich der Originaltitel der Tragikomödie „Das Beste kommt zum Schluß“ (2007) mit Jack Nicholson und Morgan Freeman, in der es darum geht, daß zwei Männer, bevor alles aus ist, noch mal kräftig auf den Putz hauen wollen: Fallschirmsprung, Reise, heiße Affäre usw. Die Projekte, die sich Martin Brehm nach der fatalen Diagnose auf seine Liste setzt, bevor der Eimer umgehauen wird, um die etwa drei Monate, die ihm laut Auskunft seines Arztes noch verbleiben, mit Sinn und Wohlfühlmomenten zu füllen, fallen etwas kleiner aus: Freizeitparkbesuch, Seenrundfahrt, Gartenarbeit. Eine letzte Reise ans Meer immerhin, die ist drin.

Ebenfalls vom Hollywood-Kino inspiriert – der Erzähler gibt das auch zu – ist die Idee, seinem kleinen Sohn einen Brief zu hinterlassen mit Tips für das vor ihm liegende Leben. In „Mein Leben für dich“ (1993) war es eine Videokassette, die diese Funktion übernahm. Brehm, Mitte Siebzig, ist seit zwölf Jahren mit der wesentlich jüngeren Künstlerin Ulla verheiratet. Sie haben einen sechs Jahre alten Sohn, David, der in den Kindergarten geht. Die Ehe ist glücklich, wenn auch nicht ganz spannungsfrei. Hier macht sich natürlich – auch – der große Altersunterschied zwischen den Eheleuten bemerkbar. So kann Ulla Martins Einfall, gemeinsam mit David einen Komposthaufen im Garten anzulegen, mit dem der Vater dem Sohn ein Gemeinschaftsprojekt hinterlassen will, und auch der Idee mit dem Brief nicht besonders viel abgewinnen.

„Der Tod war schlimmer als alles andere, weil alles andere erlebt werden konnte, nur der Tod nicht. Alles andere konnte bedacht, erinnert, erzählt, es konnte in die Biographie integriert werden.“ Es sind zu Aphorismen gereifte Gedanken wie dieser, die das Buch prägen. Doch dem Autor muß irgendwann klar geworden sein, daß der Roman, sofern er sich auf Erlebte-Rede-Selbstreflexionen und ein paar locker dahingeschriebene Dialoge zwischen Eheleuten beschränkt, von ziemlich dünnem Stoff ist. Deswegen hat er seiner einfachen Geschichte über das Sterben eine dramatische Komponente eingewoben: Der zweite Teil beginnt damit, daß Martin seine Frau in ihrem Atelier überraschen möchte und sie dabei mit einem anderen Mann erwischt, mit Peter Gundolt, wie er mit detektivischem Spürsinn ermittelt. Sollte Ulla sich einen Liebhaber genommen haben und, falls ja, wie soll der Todgeweihte damit umgehen? Hat er noch ein Recht auf Eifersucht? Und wie wirkt es sich auf die Psyche von Ulla aus, daß sie einen Moribunden betrügt? Auffällig viele Fragen serviert der Erzähler dem Leser. Viele Antworten muß er sich selbst geben.

Dafür erspart ihm der 79jährige – anders als Michael Kumpfmüller in seinem Roman „Die Herrlichkeit des Lebens“ über den sterbenden Franz Kafka (ein Buch, das in Kafkas hundertstem Sterbejahr wieder aktuell ist) – die Qualen des Siechtums. Er findet für die eigentlich eher melancholische Geschichte einen feinen, sehr nüchternen Ton und hält sich fern von jeglicher Melodramatik. Über weite Strecken ist Schlinks Held noch sehr agil, darf sich auch ein wenig ärgern über den aktuellen Klima-Alarmismus, die Pandemie-Hysterie und die neue Rassenlehre vom „White Supremacist“. Der nahe Tod läßt ihn über seine Beziehung zu Gott nachdenken und über Gottesdienste klagen, „in denen nicht mehr über das gepredigt wurde, was höher ist als unsere Vernunft, sondern über Tagesaktualitäten und -banalitäten, er mochte die Autorität nicht, die sich die Kirche bei Verlautbarungen zu Gesellschaft und Politik anmaßte, obwohl sie nur zu sagen hatte, was alle sagten, und nicht die Anbiederung an andere religiöse Traditionen, mit der die Kirche die Schönheit der eigenen verriet“ (1. Teil, Kapitel 16). Zur Masseneinwanderung schreibt Brehm im Brief an seinen Sohn: „Wie Gleiches gleich muß Ungleiches ungleich behandelt werden.“ Nicht nur der Tod, auch die Zeitkritik kommt in „Das späte Leben“ auf leisen Sohlen. Wie schön, daß es Literatur gibt: Was man nicht selber sagen kann, läßt man dann eben eine fiktive Figur sagen. 

Mitten im Leben sind wir umfangen vom Tod, heißt es in einem alten Kirchenlied. Abschied und Exitus sind menschliche Grundkonstanten. Wer von Krankheit oder dem Tod eines nahen Angehörigen aktuell betroffen ist, wird sich in dem Buch von Bernhard Schlink besonders wiederfinden. Vielleicht kann es ihm auch bis zu einem gewissen Grade zum Trostbuch werden. Aber auch allen anderen hat der Roman etwas zu sagen, weil er so ganz nebenbei, gleichsam im Schongang und ohne sonderlich tief schürfen zu wollen, grundsätzliche Existenzfragen aufwirft und sich den Antworten zaghaft tastend gemeinsam mit dem Leser nähert.

Und so – man kann es sich fast denken – führt auch die mutmaßliche Ehebruchsgeschichte den Roman nicht auf ein melodramatisches Nebengleis, auf dem auf einmal die Fetzen fliegen. Der schlichte Schlink, der Meister der leisen Töne, bleibt sich treu bis zum Ende.

Bernhard Schlink: Das späte Leben. Roman. Diogenes, Zürich 2023, gebunden, 240 Seiten, 26 Euro