© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/24 / 28. Juni 2024

Spalten im Namen der Moral
Mehrheitsprinzip: Anmerkungen zur demokratischen Mitte und ihren Feinden
Traute Petersen

Im besten Deutschland, das es jemals gegegeben hat“ (Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier), ist die Demokratie „selten so in Gefahr gewesen wie heute“ (Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang). Neuerdings konkretisiert der VS-Chef die Gefahr als besorgniserregenden „Dreiklang von russischer Spionage, Rechtsextremismus und Islamismus“ – wobei er, wohl um den Wohllaut des Dreiklangs zu retten, auf den zuvor aufgelisteten vierten Klang, den Linksextremismus verzichtete.

„Alles für Deutschland“ gilt als verbotene NS-Parole; „alle Kraft für das Wohl des Deutschen Volkes“ einzusetzen, verlangt der bundesministerielle Amtseid. Mit „aller Kraft den Sieg der deutschen Fußballmannschaft befördern“ sollen die deutschen Fans, gemäß der Empfehlung des Bundestrainers, durch lautstarkes Rufen und anfeuernde Gesten wie jubelnd hochgerissene Arme – mit beiden ist’s Patriotismus, mit nur einem wär’s ein NS-Zeichen. Wer sich da arglos als desinteressierter Nichtfußballkenner erweist, gilt als „unpatriotisch, und das in unserer Krise!“

Ein Land im Zustand höchster Vollendung und gleichzeitig zutiefst alarmierender Verfassung? Was besagt das über den gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Zustand Deutschlands?

Als Dreh- und Angelpunkt in diesem Zusammenhang erscheint das Wörtchen „Wir“, neuerdings sogar als präsidialer Buchtitel. „Wir“ erhält seine Bedeutung stets in einem konkreten Zusammenhang. Es inkludiert und exkludiert zugleich. Im „Wir“ spricht eine Gemeinschaft, die sich durch unverwechselbare Kennzeichen, Zusammengehörigkeitsbewußtein und Solidarität verbunden weiß und sich damit absetzt vom „Ihr“ der jeweils Anderen – im sportlichen Wettkampf ebenso wie im parteipolitischen Wahlkampf. Lediglich für ein „Wir“ im Namen der gesamten Menschheit wie in Schillers „Ode an die Freude“ braucht und gibt es kein „Ihr“.

Aber so weit erhebt sich der Anspruch deutscher Politiker und Amtsinhaber bisher nicht: „Wir“, die deutschen Bürgerinnen und Bürger, sollen aufstehen im gemeinsamen Kampf für die Demokratie – so die Inklusion – gegen Spalter und Feinde der Demokratie – so die Exklusion. Doch mit dieser Exklusion verläßt die politische Rhetorik die staatsmännischen Höhen und nähert sich den Ebenen der Parteipolitik, um mit dem Begriff der „demokratischen Mitte“ ebendort anzukommen.

Der Begriff erlaubt wegen seiner Unbestimmtheit unterschiedliche Interpretationen. Unter der gläsernen Kuppel des Reichstagsgebäudes aber bietet die politische Bühne Berlins ein konkretes und anschauliches Bild: Das parlamentarische Spektrum des deutschen Mehrparteiensystems zeigt im Halbrund angeordnete Sitzreihen, die parteispezifische Blöcke bilden. „Mitte“ bedeutet hier die mittlere Position im parlamentarischen Halbrund. Auf beiden Seiten, rechts und links, schließen sich die Plätze der übrigen demokratisch gewählten Abgeordneten an. Bedarf es da eigentlich des Attributs „demokratisch“ für die Mitte dieses Plenums? Suggeriert das Bild einer „demokratischen Mitte“ nicht die kritische Frage nach demokratischer Verläßlichkeit und Lupenreinheit jenseits dieser Mitte? Der „Kampf gegen Rechts“, den die „demokratische Mitte“ führt oder anführen soll, erübrigt diese Frage, nicht aber diejenige nach möglichen Folgen für das parlamentarische Halbrund.

Ohne Seiten gibt es keine Mitte. Mitte verträgt sich nicht mit dem binären Schema „Wir“ und die „Anderen“. Was wären also die möglichen Folgen eines erfolgreichen Kampfes gegen Rechts? Würde sich damit nicht die Sitzordnung teilen in ein Neben- oder Gegeneinander der Linken und der bisherigen Mitte, die damit – ein politischer Treppenwitz – zur neuen Rechten würde? Für eine neue Mitte wäre dann freilich Raum links der ehemaligen Mitte, die ihrerseits die Sitze der ehemaligen Rechten besetzt halten müßte, um die entstandene Repräsentationslücke zu schließen. Insgesamt also eine Rechtsverschiebung der „demokratischen Mitte“ und eine Linksverschiebung des parlamentarischen Spektrums. Gedankliche Zahlenspielerei?

Anfang des Jahres demonstrierte die „demokratische Mitte“ in Form von „Hunderttausenden von Menschen aus allen Teilen der Bevölkerung“ – so das bundespräsidiale Fazit – „gemeinsam für unsere Demokratie … gegen Spaltung und Menschenfeindlichkeit“ und, als kürzest mögliche Parole von Inklusion und Exklusion: „zusammen gegen Rechts.“ „Hunderttausende Menschen aus allen Bevölkerungsschichten“ – die „demokratische Mitte“ wird hier erhöht zur „Mitte der Gesellschaft“, gebildet durch die „Anständigen“, die aufstehen. Was sagt dies über den Begriff der „Mitte“? Die entsprechenden Substantive zu solchen Forderungen lauten „Aufstand“ und „Erhebung“. Diese „demokratisch-gesellschaftliche Mitte“ setzte sich denn auch laut Studie der Universität Konstanz zu etwa 80 Prozent zusammen aus Sympathisanten von SPD und Grünen.

Durch diese Verschiebung des parlamentarischen Spektrums erfährt der Begriff „Spaltung“ eine neue Bedeutung. Wo im Kampf gegen Spaltung bestimmte Teile des Plenums als „Spalter“ ausgeschlossen werden – führt da der Kampf gegen Spalter nicht zu einer neuen Spaltung? Folgen hat diese Verschiebung aber vor allem für das Mehrheitsprinzip, ein Kernelement der Demokratie. Demokratische Herrschaft beruht auf dem Mehrheitsprinzip: Wo alle Bürger ihre unterschiedlichen Kräfte in gleicher Weise entfalten und unterschiedliche Ansichten frei vertreten können, siegt bei Abstimmungen der zahlenmäßig überlegene Teil der Bürgerschaft. Vorausgesetzt natürlich, daß jede Stimme gilt und zählt. Wird irgendwann die unterlegene Minderheit mehrheitsfähig, übernimmt sie die Herrschaft. In dieser Verbindung von Mehrheitsprinzip und institutionell gesichertem Machtwechsel beweist sich die Überlegenheit der Demokratie über andersgeartete politisch-gesellschaftliche Systeme. 

Gegen äußere Bedrohung errichtete man in früheren Zeiten Stadtmauern, gegen innere Gefahren Brandmauern, damit lokal ausbrechende Feuer nicht die ganze Stadt vernichteten. Sollen nun moderne Demokratien gegen Bestrebungen, die sie „demokratiefeindlich“ nennen, immaterielle Brandmauern hochziehen und durch Spaltung der Bürgerschaft in „Demokraten“ und „Demokratiefeinde“ das Mehrheitsprinzip in Frage stellen? 

Spaltung meint ja mehr als nur numerische Scheidung, für die im Berliner Parlamentsgebäude der sogenannte Hammelsprung vorgesehen ist. Da wird die Auseinandersetzung in einer hart umstrittenen, unlösbaren Frage schließlich numerisch entschieden durch räumliches Auseinandertreten unvereinbarer Positionen. Die aktuelle politische Rhetorik setzt mit dem Mehrheitsbegriff („Wir sind mehr“) allerdings weniger auf numerische Meßwerte als auf moralische Wertung, auf die Selbstgewißheit der eigenen Überlegenheit. Und hier sind die Grenzen zwischen Moral und Unmoral, zwischen Richtig und Falsch rasch gezogen. Wer mag, aus Sorge vor dem Makel der Unanständigkeit, zögern, sich dem „Aufstand der Anständigen“ anzuschließen? Wer möchte, wo das „Wir“ zählt, nicht dazugehören? Und wer möchte sich numerischer Kleinkrämerei verdächtig machen angesichts der großzügigen Versicherung: „Wir sind mehr“? Schon im gänzlich undemokratischen Mittelalter war das in Glaubens- und Machtkämpfen ein unfehlbares Argument, mit dem sich die unterlegene Partei umstandslos zur sanior pars, mithin zur Siegerin erklären konnte – „sanior“, weil „gesünder“, „Gott wohlgefälliger“.

Wie aber steht es, sobald es um Unverhandelbares wie Menschlichkeit und Menschenfeindlichkeit geht, um das Mehrheitsprinzip? Zwischen Schafen und Böcken kann kein Hammelsprung entscheiden. Erscheint es da verwunderlich, wenn sich die politische Auseinandersetzung neuerdings aus dem parlamentarischen Raum zunehmend auf die Straße verlagert und mit gewalttätigen, körperlichen Attacken auf alle möglichen politischen Gegner als Demokratie- oder Menschenfeinde losschlägt? Selbst wenn die Polizei in ihrem inzwischen reduzierten Umfang in der Lage wäre, regierungsamtlichen Aufrufen zum Schutz bedrohter Parteipolitiker nachzukommen, könnte sie bestenfalls an Symptomen kurieren. Laut jüngster Einschätzung des Verfassungsschutzpräsidenten sind solche Angriffe „symptomatisch“ für den Zustand unserer Gesellschaft: „Der Diskurs verschiebt sich von der sachlichen Auseinandersetzung zur aggressiven Konfrontation.“ Die Frage nach den Ursachen bleibt bezeichnenderweise ausgespart. Damit aber auch die Frage, wie man selbstgerufene Geister wieder los wird.


Dr. Traute Petersen arbeitete im schleswig-holsteinischen Hochschul- und Schuldienst und war zeitweilig Vorsitzende des Verbands der Geschichtslehrer Deutschlands.