Für einen Deal mit den Amerikanern war Olaf Scholz der falsche Mann. Aber er hat es immerhin über US-Finanzminister Steven Mnuchin versucht. Eine Milliarde Euro wollte er als Bundesfinanzminister in ein Projekt Donald Trumps stecken: die Anlandung von Flüssigerdgas (LNG) an der Nordseeküste. Washington sollte dafür die Ostseepipeline Nord Stream 2 abnicken. Aber die Deutschen wollten so weiterhin auch russisches Gas beziehen – aus Sorge um die Energiesicherheit. Das Weiße Haus ließ daher mitteilen, man werde auf den „Mist“ (crap) nicht hereinfallen. So berichtete es das Handelsblatt.
Präsident Wolodymyr Selenskyj habe sich 2020 sogar für die US-Sanktionen gegen Nordstream 2 bei Trumps Außenminister Mike Pompeo bedankt. Denn die Ukraine wollte Rußland und die EU weiter mit der durch ihr Land führenden Transitgaspipeline „erpressen“ und sich heimlich „bedienen“. Die Gastransfergebühren waren zudem eine wichtige Einnahmequelle für den Staatshaushalt. Unter Joe Biden setzte sich die Anti-Nord-Stream-Politik nahtlos fort. Dennoch forcierte Angela Merkel bis Herbst 2021 gegen alle Drohungen die Fertigstellung des Zehn-Milliarden-Projektes Nordstream 2.
Die SPD unterstützte sie dabei. Manuela Schwesig, Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, initiierte mit dem russischen Gazprom-Konzern die „Stiftung Klima- und Umweltschutz MV“. Diese sollte einen Teil der Bauarbeiten übernehmen: Die Stiftung MV sei eine Regierungsstelle, erkannte das US-Außenministerium an, daher greife die „Ausnahme von einer Sanktionierung“.
Nord Stream 2 sei „das größte wirtschafts-, energie- und außenpolitische Versagen seit Bestehen der Bundesrepublik“, ätzte Felix Banaszak, Leiter der Gruppe „Klimaneutral Wirtschaften“ der Bundestagsfraktion, im Tagesspiegel. Und die energiepolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion, Lisa Badum, grüne Vorsitzende des Bundestagsunterausschusses für Internationale Klima- und Energiepolitik, verlangte „dringende“ Aufklärung, schließlich seien „aufgrund unserer fatalen Gasabhängigkeit von Rußland Milliardenschäden entstanden“. Dabei ist durch die Pipeline kein Gas geflossen. Und am 26. September 2022 wurde Nord Stream 1 und einer der beiden Pipeline-Stränge von Nord Stream 2 gesprengt. Von wem ist unklar. Das interessiert die Ampel und die Union allerdings wenig.
Die Wiedervereinigung und der Fall des Eisernen Vorhangs sind nur bedingt schuld an der Einergieabhängigkeit, denn schon vor 1989/90 setzte der Westen auf sowjetisches Gas und Öl, um nach Ölkrise 1973/74 unabhängiger zu werden. Zudem wurde in der Stromversorgung vermehrt auf Atomkraft gesetzt. Doch dann kam die „Klimapanik“, und das „CO2-arme“ Gas sollte Atom- und Kohlekraft schnellstens ersetzen. Wäre Nord Stream 2 ans Netz gegangen, wäre der Strompreis zwar auch gestiegen, aber die Wirtschaft wäre – dank russischer Rohstoffe – insgesamt wettbewerbsfähiger.
Das Projekt stand „ukrainischen Sicherheitsinteressen diametral entgegen“, konstatierte das Handelsblatt. Gemeint sind wohl Wirtschaftsinteressen, denn die Zeitung zitiert aus einem „Maßnahmenkatalog zur politischen Flankierung von Nordstream 2“, den Außenstaatssekretär Markus Ederer 2016 an das Wirtschaftsministerium geschickt haben soll: „Während in der Kritik eine angebliche Preisgabe europäischer Solidarität und ein Imstichlassen der Ukraine in den Vordergrund gestellt werden, schwingen unterschwellig auch Eigeninteressen jener Staaten mit, die neben der Ukraine vom Gastransit auf den bisherigen Routen profitieren und den Verlust von Einnahmen fürchten.“
Ist die Gasabhängigkeit schon durch Nord Stream 1 entstanden?
Die Energiesicherheit soll auch ein Untersuchungsausschuß hinterfragen, der von der Union angestrebt wird: Ließ Robert Habeck tatsächlich ergebnisoffen prüfen, ob die AKWs in der Energiekrise länger am Netz bleiben können? Fraktionsvize Jens Spahn findet, daß die Gasabhängigkeit schon durch Nord Stream 1 entstand: „Dieses Projekt wurde von Rot-Grün unter Gerhard Schröder, Joschka Fischer und einem Umweltminister Jürgen Trittin entschieden“, so Spahn im Tagesspiegel. Doch auch Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) war für den Ersatz von Atom- und Kohlestrom durch Gaskraftwerke. Und auch in den USA kommen etwa 40 Prozent des Stroms aus Gaskraftwerken.
Scholz wird erklären müssen, warum er 2020 „seinen geheimen Deal auch ohne Zustimmung des deutschen Parlaments als Haushaltsgesetzgeber vorantreiben“ wollte. Als Kanzler kam er in den Genuß seiner Vorarbeit und konnte sich 2023 nach der schnellen Einrichtung von LNG-Terminals für sein „Deutschlandtempo“ loben. Dann gibt es noch die Plattform Abgeordnetenwatch.de. Die verlangt, Scholz solle das LNG-Geschäft eines Steuerberaters und eines Immobilienmanagers erklären, die im April 2022 die Deutsche ReGas als „Zwei-Mann-Kombo“ (Süddeutsche Zeitung) gegründet haben.
Auch das werfe Fragen auf, tönt der grüne Hinterbänkler Banaszak. Ein Untersuchungsausschuß „mit komplettem Zugriff auf alle Dokumente und die Vernehmung der Verantwortlichen“ könnte „diese offenen Fragen“ aufklären. Eine brisante Frage lautet: Warum hat die Große Koalition mit Unterstützung von Scholz unmittelbar vor der Regierungsübernahme durch die Ampel noch schnell Nord Stream 2 durchdrücken wollen? Dabei verweist Banaszak auf den Entwurf einer Versorgungssicherheitsprüfung: „Ging es darum, die Nord-Stream-kritischen neuen Koalitionspartner Grüne und FDP vor vollendete Tatsachen zu stellen?“ Trotz allem war der Anteil der europäischen Gasimporte aus Rußland im Mai erstmals seit fast zwei Jahren mit 15 Prozent ein Prozent höher als die Lieferungen aus den USA. Denn dort war eine große LNG-Exportanlage ausgefallen. So erklärt der Preisinformationsdienst ICIS den Anstieg der russischen Pipelinegas- und LNG-Lieferungen. Empfänger waren die EU, Großbritannien, die Schweiz und der Balkan. Das Gas-Transitabkommen zwischen der Ukraine und Rußland läuft dieses Jahr aus. Ob es verlängert wird, ist fraglich.
Das besorgt auch den Luxemburger EU-Rechnungshof (EuRH), der in einem aktuellen Gutachten vor der gewachsenen Abhängigkeit von LNG-Lieferungen warnte. Angesichts der Abhängigkeit von Gas aus dem Ausland dürfe „die EU nie einfach die Hände in den Schoß legen können, wenn es um die Versorgungssicherheit geht“, erklärte EuRH-Prüfer João Leão. „Auch die Konsumenten haben für den Fall eines künftigen größeren Engpasses keine Garantie, daß die Preise bezahlbar bleiben.“ Schließlich würden 20 Prozent des Stroms und fast 40 Prozent der Wärme in der EU aus Gas erzeugt.
EuRH-Sonderbericht 9/24 zur „Sicherheit der Gasversorgung in der EU“: eca.europa.eu/de/publications/SR-2024-09