© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/24 / 28. Juni 2024

Ab ins Herkunftsland
Abschiebungen: Meistens scheitern sie an fehlenden Papieren oder dem fehlendem politischen Willen. Welche Rolle spielt die EU dabei? Und können andere Staaten mehr abschieben als wir?
Paul Leonhard

Allein im vergangenen Jahr lag die Zahl der Asylanträge in Deutsuchland bei rund 352.000. Die aktuelle politische Diskussion um mehr Abschiebungen – etwa durch das Rückführungsverbesserungsgesetz – sieht angesichts der Zahlen wie eine Scheindebatte aus. Im Jahr 2023 wurden 16.430 Personen abgeschoben, davon 5.053 sogenannte Dublin-Überstellungen innerhalb der EU. Bemerkenswert wenige, wenn man bedenkt, daß Deutschland keine EU-Außengrenze hat. 6.000 davon erfolgten per Charterflug, wofür der europäische Steuerzahler mehr als 32 Millionen Euro zahlt, denn die Kosten werden von der Grenzschutzagentur Frontex erstattet. Ganze 31.300 Abschiebungen scheiterten aber. 

Bereits 2020 – ein Jahr vor Antritt der Ampelkoalition – war die Zahl der Abschiebungen vor dem Hintergrund der Corona-Krise um die Hälfte eingebrochen. Allerdings wurden in diesem Jahr noch 54.069 Migranten durch eine finanziell geförderte Ausreise verabschiedet. 2023 waren es nur noch 12.100. Die praktizierte deutsche und EU-Gesetzgebung macht es illegalen Migranten sehr leicht, hier zu bleiben.

Ganz ähnlich ist die Rechtslage in Österreich, weiß Harald Vilimsky, der für die FPÖ im EU-Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten sitzt. „Ausländer werden – selbst bei Straffälligkeit – in Österreich kaum abgeschoben, weil internationale und europäische Rechtsnormen, wie die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention, eine Rückführung in Länder verbieten, in denen schwere Menschenrechtsverletzungen drohen könnten.“

Wer dennoch ausreist, wird mit ausreichend Steuergeldern ausgestattet. Dazu dienen Programme wie REAG/GARP 2.0, IRMA oder Starthilfen plus, bei dem Ausreisewillige nach Ablehnung ihres Asylantrags bis zu 1.200 Euro Unterstützung erhalten können. Grundsätzlich hat jeder Asylsuchende nach der EU-Richtlinie 2011/95 das Recht auf eine individuelle Prüfung seines Antrags und darf ohne diese nicht abgelehnt werden. Schon deshalb ist es erstaunlich, daß die Bundespolizei im vergangenen Jahr 34.860 Menschen zurückweisen konnte.

Die meisten Duldungen erfolgen aus „sonstigen Gründen“

Ende 2023 zählt die Bundesregierung 242.600 Ausreisepflichtige in Deutschland. Rund 60 Prozent davon sind abgelehnte Asylbewerber. Dazu zählen auch Personen mit einer Duldung. 193.972 an der Zahl. Die Bundesregierung listet die Gründe für die Duldung auf: weil den Ausreisepflichtigen Reisedokumente fehlen (46.965); wegen familiärer Beziehungen zu anderen Geduldeten (über 21.000); weil die Identität ungeklärt ist (über 17.500); weil der Asylentscheider eine Ermessensduldung erteilt hat (7.665); weil ein Asylfolgeantrag gestellt wurde (6.051), weil konkrete Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung bevorstehen (5.314), wegen der Aufnahme einer Ausbildung oder Erwerbstätigkeit (4.509), weil es sich um einen unbegleiteten Minderjährigen (4.103) oder um eine schwerwiegende Erkrankung (2.507) handelt, sowie aus weiteren, zahlenmäßig kleineren Gründen. Hinzu kommen 66.519 Duldungen aus „sonstigen Gründen“.

Vilimsky beobachtet die Situation im EU-Parlament seit 2014. Auf die Frage, woran Abschiebungen scheitern, antwortet er: „Am politischen Willen der zuständigen Minister und Behörden. Die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni hat mit dem im August feierlich zu eröffnenden Migrantenzentrum in Albanien gezeigt, daß Asylzentren außerhalb der EU eröffnet werden können, auch wenn die EU-Kommission seit gut einem Jahrzehnt von deren Rechtswidrigkeit überzeugt ist.“

Die Lage in dem Haupteinwanderungsland Afghanistan hat die EU-Asylagentur kürzlich neu bewertet. Hinter Syrien kommen mit knapp 118.000 weiterhin die meisten Asylanträge aus dem zentralasiatischen Land. Demnach gibt es derzeit in keinem Teil Afghanistans eine generelle Alternative zum Schutz in der EU. Seit 2021 haben auch vier Oberverwaltungsgerichte über die Frage entschieden, ob ein Abschiebungsverbot nach Afghanistan besteht oder nicht, berichtet der Mediendienst Integration. Zwei entschieden dafür, zwei dagegen. Kein Afghane wurde nach Kabul abgeschoben.

Aber auch in sichere Herkunfts- und Drittstaaten darf nicht einfach abgeschoben werden, etwa wenn Asylbewerber behaupten, das betreffende Land sei für sie nicht sicher, ihnen drohe Verfolgung oder eine andere ernsthafte Gefahr. So entschied das Verwaltungsgericht Dresden, daß eine vierköpfige Familie nicht nach Venezuela ausgewiesen werden dürfe, weil dort die Versorgungslage prekär sei.

Auch die Abschiebung ausländischer Straftäter ist problembehaftet. Die Behörden müssen in jedem Einzelfall abwägen, ob das Bleibeinteresse das Ausweisungsinteresse überwiegt, etwa weil die Person schon lange in Deutschland lebt oder familiäre Bindungen hat. Schutzsuchende im Asylverfahren können nur abgeschoben werden, wenn von ihnen eine terroristische Gefahr ausgeht und auch dann nur, wenn ihnen im Abschiebeland keine Folter oder unmenschliche Behandlung droht. Die Abschiebung nach Syrien und Afghanistan wird dadurch erschwert, daß die Bundesrepublik mit der Regierung von Präsident Baschar al-Assad ebenso wie mit den Taliban in Kabul keine Beziehungen pflegt. Berlin verweist deshalb auf Brüssel, wo Verhandlungen laufen.

Daß der Anteil der abgelehnten Asylbewerber an allen Ausreisepflichtigen zwischen 2015 und 2023 um 20 Prozentpunkte gesunken ist, läßt sich zu einem großen Teil auf das neue Chancen-Aufenthaltsrecht zurückführen. Von dem Gesetz, das am 31. Dezember 2022 in Kraft trat, profitieren Migranten aus Afghanistan, Irak, Nigeria und Iran. Nach Eröffnung des Verfahrens haben sie die Möglichkeit, innerhalb von 18 Monaten die Voraussetzungen für ein dauerhaftes Bleiberecht zu erfüllen. Am 24. Februar 2024 besaßen knapp 60.000 Personen diesen Aufenthaltstitel. Seit 2015 können zudem „langjährig Geduldete“ eine Aufenthaltserlaubnis beantragen, wenn sie „nachhaltig integriert“ sind.

Abschiebungen scheitern „am fehlenden politischen Willen“

Und wie sieht es in anderen europäischen Ländern aus? In Frankreich wurden im vergangenen Jahr rund 137.730 Drittstaatsangehörige zur Ausreise aufgefordert. „Daß sich Deutschland rühmt, im Jahr 2023 über 16.000 Personen abgeschoben zu haben, ist angesichts von 1,1 Millionen Asylanträgen, die im selben Zeitraum in der EU gestellt wurden, ein Wermutstropfen“, meint der FPÖ-Europaabgeordnete Vilimsky. Zahlreiche Länder hätten sich „durch nationale Initiativen für Wohlstandsmigration unattraktiv gemacht“. Daß die deutsche Regierung sich für ihr Geldkartenmodell für Migranten feiere, zeige nur, daß der „Willkommenskult noch immer nicht überwunden“ sei. Viele Staaten setzten längst ausschließlich auf Sachleistungen. Abschiebungen hingegen gestalten sich EU-weit schwierig. Spanien schaffte 64.260, Griechenland 29.825, Italien 26.460, das kleine Belgien 24.475, die Niederlande 21.265 und Bulgarien 16.760. Insgesamt hatten 2023 rund 484.160 Menschen kein Aufenthaltsrecht in der EU und wurden zur Ausreise aufgefordert.

In den ersten vier Monaten des Jahres 2024 hat die US-amerikanische Einwanderungs- und Zollbehörde insgesamt 679 Abschiebeflüge durchgeführt. Fast 60 Prozent der Flüge gingen nach Guatemala und Honduras, gefolgt von Kolumbien, Ecuador, Peru und verschiedenen afrikanischen Ländern. Für mehr reichten die Flugkapazitäten nicht aus. Im Jahr 2023 wurden über 142.000 illegale Einwanderer abgeschoben, darunter übrigens auch 54 deutsche Staatsbürger.

Während die USA hoffen, Asylverfahren künftig in Mexiko durchführen zu können, setzt Großbritannien auf Abschiebungen nach Ruanda, wofür die dortige Regierung über fünf Jahre verteilt umgerechnet mindestens 440 Millionen Euro erhalten soll. Für jede tatsächlich durchgeführte Abschiebung sollen weitere Gelder fließen. Zudem sollen Illegale künftig keine Möglichkeit mehr haben, in Großbritannien Asyl zu beantragen, stattdessen will London die Anträge in einem Lager auf französischem Boden prüfen lassen.

Derweil droht den Bürgern der EU-Staaten weiteres Ungemach, wenn am 26. Juni 2026 der neue EU-Migrationspakt in Kraft tritt. Dieser sieht unter anderem vor, „angemessene Aufnahme- und Lebensbedingungen für Asylbewerber entsprechend den vorhersehbaren Bedürfnissen zu gewährleisten; faire, effiziente und einheitlichere Asylverfahren; effiziente und gerechte Rückführungsverfahren; ein faires und effizientes System – Umsetzung der neuen Zuständigkeitsregeln; gelebte Solidarität; Vorsorge, Notfallplanung und Krisenreaktion; neue Garantien für Asylbewerber und schutzbedürftige Personen; Neuansiedlung, Eingliederung und Integration“. Von Abschiebungen ist da nicht die Rede.


Große JF-Petition an die Bundesregierung, um Abschiebungen auch nach Syrien und Afghanistan zu ermöglichen https://petitionfuerdemokratie.de


Wer kann überhaupt abgeschoben werden?

Insgesamt sind etwa 16 Prozent der 84 Millionen Menschen in Deutschland Ausländer, schreibt das Ausländerzentralregister (AZR). Die Bundesbehörden sortieren sie in verschiedene Rechtskreise ein. Nur die wenigsten sind illegal hier. Abgeschoben werden konnten Ende 2023 nur 48.670. Die hohe Differenz zwischen von der Bundesregierung als „unmittelbar ausreisepflichtig“ erkannten Personen und jenen ohne Aufenthaltsgestattung oder Duldung, beruhe auf diversen Gruppen, wie „im Ausland anerkannten Flüchtlingen oder Personen, die einen Ankunftsnachweis, eine Betretenserlaubnis, eine Anlaufbescheinigung, usw.“ besitzen, erklärt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge der JF. Experten vermuten eine große Zahl Karteileichen darunter.


Abweisungen an den jeweiligen Grenzen

Alle EU-Staaten zusammen haben im Jahr 2023 sowohl an den Landes- und Seegrenzen als auch an den Flughäfen 123.260 Menschen von der illegalen Einreise abgehalten


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