© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/24 / 28. Juni 2024

Im Osten was Neues
Reportage: Erstmals wird die Bundeswehr eine Brigade dauerhaft im Ausland stationieren / JF war vor Ort
Falk Degner

In Pabradė herrscht Schießkrieg. Ein konventionelles Gefecht gegen einen symmetrisch operierenden, gleichwertigen Gegner, so das Planspiel auf dem litauischen Manövergelände, das kürzlich den von vielen Medienvertretern begleiteten Schlußakt der Nato-Gefechtsübung „Quadriga 2024“ in Pulverdampf hüllt. Den schußgewaltigen Prolog zum neuen Nato-Kriegsbild Landes- und Bündnisverteidigung bildet ein Zug deutscher Panzerhaubitzen 2000. Kurz zuvor in die Feuerstellung gerollt, feuert die Rohrartillerie ihre Salven gen Horizont. In der Tiefe des Raumes sollen die tödlichen 155-Millimeter-Geschosse aufgeklärte Feindspitzen zerschlagen: aus Sowjetzeiten stammende Radpanzer, so ein Armeesprecher. Zu sehen sind die leicht gepanzerten Vorauskräfte der Angreifer nicht. Dennoch, der Rohranstellwinkel der Panzerhaubitzen verrät, daß es sich um mittlere bis kürzere Distanzen handelt, in denen der Gegner bekämpft werden soll. Zügiger Stellungswechsel, dann läßt die längst in sandgrauen Abschußnebel gehüllte Kettenartillerie erneut das Erdreich erzittert.

Trotz der zu erahnenden Vernichtungswirkung greift „Rot“ weiter an. Daß es sich hier um russische Streitkräfte handeln könnte, wird ganz offen gesagt. Rasch kommt weitere Bewegung ins taktisch-operationelle Kriegsspiel, als Radschützenpanzer durch Staubgirlanden in die Tiefe rollen. Sekunden später dominiert Flachfeuer aus deren 30-Millimeter-Maschinenkanonen das Szenario. Mit dem sogenannten „Schweren Waffenträger Infanterie“ auf Basis des Radpanzers Boxer wollen die Landstreitkräfte die Leistungsfähigkeit der neuen Kategorie „Mittlere Kräfte“ demonstrieren, mit der das Heer zukünftig über autarke, hochmobile und auf der Straße verlegbare Waffensysteme verfügt, die zudem schlagkräftig und hochgeschützt sind. Minuten später weichen die Boxer nach hinten aus. Ein konzertant abgestimmter Wechsel, bei dem die Schweren Waffenträger von leichten Geländewagen alliierter Infanterie-Kräfte, die mit einem schweren Maschinengewehr ausgerüstet sind, im Feuerkampf abgelöst werden. 

Wenig später rücken Leopard-2-Kampfpanzer und Schützenpanzer Puma vor, die koordiniert ausweichende Fußtruppe überschlagend, um sich mit geballter Feuerkraft und Kampfunterstützung einer Rotte Kampfhubschrauber Tiger mit 70-Millimeter-Raketen erneut gegen den Feind zu stemmen. Was sich hier so impulsiv und mit gewaltigem Gefechtslärm unter ständigen Stellungswechseln in die Tiefe des Raumes entlädt, um den Feind immer wieder treffgenau abzunutzen, soll bei Quadriga 2024 die militärische Operationsart Verzögerung vorführen – und eine Leistungsschau „Mittlerer Kräfte“ sein, die künftig rasch verlegt werden können, sollte es an der potentiell bedrohten Nato-Ostflanke irgendwo brennen (JF 34/22). 

Was Pabradė ebenfalls wie im Zeitraffer präsentierte, war, wie künstlich ein solches Übungsgefechtsbild wirkt. Am Ende sollte der schöne Schein einer zuvor zigfach einstudierten Choreographie die mittlerweile wohlfeil propagierte Siegfähigkeit deutscher Streitkräfte suggerieren. Denn daß die einst in den achtziger Jahren als „Panzerabwehrhubschrauber 2“ konzipierten Tiger in einem kommenden Krieg auf einem von hochmodernen Flugabwehrsystemen gespickten Gefechtsfeld eine längere Überlebenschance haben, dürfte recht unwahrscheinlich sein. Ebenso unrealistisch ist eine infanteristische Mobilität in offenen Geländejeeps. Solche Fahrten würden für die Soldaten allzu oft tödlich enden, wie der gegenwärtige Drohnenkrieg gegen ungeschützte Ziele in der Ukraine nur allzu blutig zeigt. Alles sei nur eine Übung, um Gefechtslagen zu verdeutlichen, wie sich Bundeswehr und Nato-Partner den Krieg gegen Rußland vorstellen, lautet die Kommentierung der Militärs. Ein Schutz gegen Drohnen im Nahbereich von Heeresverbänden oder gar ein Einsatz von Killerdrohnen durch die eigenen Kräfte – durchweg Fehlanzeige.

„Wir werden jeden Zentimeter Boden verteidigen“

Doch vom Quadriga-2024-Finale auf dem Übungsplatz Pabradė – nur 50 Kilometer von der litauischen Hauptstadt Wilna (Vilnius) und rund zwölf Kilometer von der Grenze zu Weißrußland entfernt – geht eine weitaus gravierendere Botschaft aus, wie der deutsche Generalinspekteur Carsten Breuer mit Fingerzeig gen Osten und mit energischem Ton unterlegte: „Deutschland steht zu seinem Wort. Wir werden jeden Zentimeter Nato-Boden verteidigen.“ Quadriga 2024 ist das deutsche Trainingsformat des im Januar entlang der gesamten Nato-Ostflanke gestarteten transatlantischen Großmanövers „Steadfast Defender“, mit dem die Bundeswehr mit 12.000 deutschen Soldaten einschließlich alliierter Kräfte an vier europaweiten Regionalszenarien beteiligt war (JF 7/24). Die Nato-initiierte Übungsserie sei die militärische Antwort auf den dramatischen russischen Bedrohungszuwachs. Die Bundeswehr habe in Pabradė „Kriegstüchtigkeit bewiesen“, resümiert  ihr ranghöchster Soldat. Man stehe bereit, die Zeitenwende in die Tat umzusetzen. Breuer weiter: „Klar ist und Fakt ist, daß wir gerade auf dem Weg in eine noch höhere Einsatzbereitschaft sind.“ 

So ist das litauische Trainings­areal im Kontext der Nato-Doktrin zur Refokussierung auf Landes- und Bündnisverteidigung wegen seiner geostrategisch exponierten Lage nicht nur symbolisch aufgeladen. Nahe Pabradė, bei der 500 Seelen zählenden Gemeinde Rudninkai, soll zukünftig eine deutsche Brigade stationiert werden. Bis 2027, dauerhaft und als Großverband der Landstreitkräfte ausgelegt, um dem beängstigenden, aber nicht unrealistischen Angriff eines Aggressors einen gepanzerten und kampfstarken Riegel mit 5.000 professionell trainierten und ausgerüsteten Soldaten vorzuschieben. Vor Ort unterstrich Breuer dazu: „Wir zeigen ein sicherheitspolitisch starkes Signal Richtung Rußland – mit uns ist nicht zu spaßen.“

Doch noch gleicht diese für eine dauerhafte Auslandsentsendung der Kampftruppe nutzbar zu machende Fläche einer riesigen Rodungs- und Baustellenwüste, die in großen Teilen durch Bombenabwürfe kontaminiert ist. Eine Hinterlassenschaft der Sowjet-Luftwaffe, wie Rimantas Jarmalavicius, Kommandeur des kommenden Gefechtszentrums Rudninkai, informiert. Auf den rund 170 Quadratkilometern des Militärgeländes sollen in den nächsten drei Jahren sowohl Panzer- und Infanterie-Schießbahnen sowie Übungsdörfer als auch große Kasernenkomplexe, Turnhallen, Sportplätze und Schulen entstehen. Mit der Infrastruktur für die deutsche Kampfbrigade stellt Litauen mit einer Milliarde Euro die höchsten staatlichen Investitionen seit der Unabhängigkeitserklärung 1990 für den Schutz des Landes bereit. 

Aber während in Litauen durchweg Euphorie angesichts der zu erwartenden deutschen Militärpräsenz herrscht, ist die Stimmung im Endsendeland keineswegs ungetrübt. Immerhin beruht die Stationierungsentscheidung des Sommers 2023 auf einem Affront gegenüber dem Parlament, wie es im Verteidigungsausschuß noch immer verärgert heißt. 

So hatten Bundeskanzler Olaf Scholz und Verteidigungsminister Boris Pistorius den Willen zur festen Truppenpräsenz ohne vorherige Konsultationen im überraschenden Alleingang am Bundestag vorbeimanövriert. Auch Heeresinspekteur Alfons Mais fühlte sich düpiert, denn das Herausschneiden von zwei gepanzerten Kampftruppenbataillonen, einschließlich Artillerie, Logistikteilen und Sanitätseinrichtungen aus der Heeresstruktur, würde tiefe Dellen hinterlassen. Laut Mais müsse man die Brigade aus dem Truppenkörper „ausschwitzen“, was wegen der Priorisierung des Leuchtturmprojekts erhebliche personelle wie materielle Ressourcen verschlingen werde. 

Auch die Finanzierung dieser litauischen Lebensversicherung – derzeit immerhin elf Milliarden Euro – ist im Wehretat nicht abgebildet. Finanzminister Christian Lindner (FDP), der zu Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine großspurig Deutschlands zukünftige Führungsrolle einschließlich der schlagkräftigsten Landstreitkräfte in der EU einforderte, pocht hartnäckig auf strikten Sparkurs. Pistorius’ Stationierungszusage birgt für  Deutschland hohe Risiken. Denn käme es zum Krieg mit Rußland, stünden deutsche Kampfverbände unmittelbar im Gefecht, was hierzulande wiederum gravierende Mobilisierungs- und Zivilschutzaktivitäten auslösen würde. Sollte aber der Bundestag auf ein Scheitern des Vorhabens hinwirken, wäre dies nicht nur gegenüber dem Kreml ein sicherheitspolitisch katastrophales Signal, sondern auch ein nicht zu kittender Vertrauensverlust mit fataler diplomatischer Tragweite gegenüber der Nato.