Herr Bidwell, allen Umfragen zufolge wird die sozialdemokratische Labour-Partei nach der Wahl die neue Regierung stellen – und den Tories droht eine historische Niederlage. Verdient?
Sam Bidwell: Nun, Parteien verlieren keine Wahlen ohne Grund – und schon gar nicht in diesem Ausmaß. Es rächt sich nun, daß die Tories es in den letzten 14 Jahren versäumt haben, die Prioritäten ihrer Kernwählerschaft umzusetzen.
Welche Prioritäten meinen Sie?
Bidwell: Vor allem entschlossene Maßnahmen, um die Einwanderung einzudämmen, die Wirtschaft anzukurbeln und unseren aufgeblähten öffentlichen Dienst zu reformieren. Wobei das Scheitern der Tories Symptom eines anderen Problems ist, das sie ebenfalls nicht angepackt haben.
Und das wäre?
Bidwell: Allen voran der ausufernde Beamtenstaat. Seit der Labour-Politiker Tony Blair 1997 erstmals Premierminister wurde, übertragen wir alle Arten ministerieller Befugnisse auf ein Geflecht verschiedener Aufsichtsbehörden, autonomer staatlicher Stellen, die als Quasi-Nichtregierungsorganisationen funktionieren, und anderer Gremien außerhalb der Regierungskontrolle. Diese nicht gewählten Institutionen beeinflussen unsere Entscheidungsfindung enorm.
Ist es wirklich unmöglich, sie zu umgehen?
Bidwell: Selbst wenn, müssen die Minister auch mit dem durchdringenden Einfluß der Gerichte fertig werden. Kurz: Die Regierung hat heute weniger Macht als in den achtziger Jahren. Ihre Entscheidungen werden durch quertreibende Beamte behindert, durch unkontrollierbare Institutionen unterbrochen und durch sich einmischende Richter blockiert. Auch tatsächliche Nichtregierungsorganisationen – etwa „Hope Not Hate“, die mit der deutschen Amadeu-Antonio-Stiftung vergleichbar ist – spielen eine Rolle. Die Gesetze erlauben solchen Vereinen, gegen die Regierung Lobbyarbeit zu betreiben und sich ihr zu widersetzen, ohne die finanzielle Unterstützung vom Staat zu verlieren.
Wenn das nicht bekannt klingt ...
Bidwell: Zwar kann ich nicht für Deutschland sprechen, aber Großbritannien muß aufhören, solche Vereine zu unterstützen und seine Verwaltungsstruktur von Grund auf überprüfen. An dieser Front haben die Tories versagt.
Gibt es bei der Migrationspolitik weitere Versäumnisse, die die Tories zu verantworten haben?
Bidwell: Ja, einige, sei es beim kriterienbasierten Punktesystem oder bei den Visa für Studenten, Uniabsolventen, Pfleger und deren Verwandte. In all diesen Fällen gelang es den Tories nicht, die Anzahl der Einwanderer wirksam zu begrenzen und Unqualifizierte fernzuhalten. Das Ergebnis sind explodierende Einwanderungszahlen. Allein im vergangenen Jahr kamen 1,2 Millionen Migranten dazu, wodurch 680.000 Personen mehr ins Land kommen als auswandern. Die Tories haben aber ein noch tiefgreifenderes Problem: Sie haben eine merkwürdige Selbstgefälligkeit an den Tag gelegt, was unsere Abhängigkeit von billiger Einwanderung aus der Dritten Welt betrifft. Und das, statt harte Abwägungen zu treffen, in die Ausbildung unserer einheimischen Arbeitskräfte zu investieren und Anreize für Investoren zu schaffen.
Es leben Hunderttausende Migranten und deren Nachkommen im Vereinigten Königreich. Wie beeinflussen sie das Wahlergebnis?
Bidwell: In den letzten Jahren haben wir eine explosionsartige Zunahme ethnoreligiös motivierter Kampagnen erlebt, sowohl in den etablierten Parteien als auch durch Kandidaten außerhalb des politischen Mainstreams. Üblicherweise werden sie von sogenannten zivilgesellschaftlichen Organisationen veranstaltet, die unter der Leitung führender Vertreter ethnischer und religiöser Minderheiten stehen.
Bidwell: Das mag sein. Aber dank unseres Mehrheitswahlrechts können große oder auf wenige Gebiete konzentrierte Minderheiten riesigen Einfluß ausüben – mit erheblichen negativen Folgen.
Welchen Folgen?
Bidwell: Erstens läßt sich keine vernünftige, eigennützige Außenpolitik mehr betreiben, wenn sich Politiker einem ethnischen oder religiösen Wählerblock verpflichtet fühlen. Zweitens hat das besorgniserregende Folgen für unsere Freiheit. Wir haben erlebt, wie erfolgreiche moslemische und propalästinensische Kandidaten Kapital aus dem Frust über die Lage in Gaza schlagen konnten. Es gibt aber auch andere Akteure wie „Hindus für Demokratie“, die in entsprechenden Wahlkreisen Druck auf Kandidaten ausüben. Sie fordern etwa, hart gegen „hinduphobe Mikroaggressionen“ durchzugreifen und die Visaregeln für Glaubensgenossen im Rentenalter zu lockern. Bekennen sich die Kandidaten nicht dazu, verweigern die Gemeinschaftsvertreter ihnen die Unterstützung. Schlimmer noch: Das ist kein Problem einer einzelnen Partei. Die britische Politik muß diesbezüglich eine Null-Toleranz-Politik verfolgen – und ich denke, wir sollten ein Verbot solcher Vereinigungen erwägen. Zudem brauchen wir eine landesweite Debatte über die gescheiterte Integration von Millionen. Es kann keine auf öffentlichem Vertrauen gründende Demokratie geben, wenn ganze Gruppen innerhalb der Gesellschaft widersprüchliche Interessen verfolgen.
Was uns zur migrationskritischen Partei Reform UK von Nigel Farage bringt. Wie ist sie inhaltlich mit anderen rechten Vereinigungen in Europa, zum Beispiel der deutschen AfD, zu vergleichen?
Bidwell: Reform UK ist in vielerlei Hinsicht gemäßigter. So ist sie weniger explizit nationalistisch und beschäftigt sich ebenso weniger intensiv mit der Islamfrage. Farage selbst tut alles Mögliche, um die Unterstützung seiner Partei durch verschiedene Minderheiten zu betonen. Wobei er dies im aktuellen Wahlkampf etwas in den Hintergrund rückt.
Nun konkurriert Reform UK mit den Tories um Platz zwei – könnte sie sich auch als dominierende Kraft auf der Rechten durchsetzen?
Bidwell: Daran zweifle ich. Reform leidet unter schwachen Strukturen und scheint Probleme zu haben, fähige Mitglieder anzuwerben.
Gilt das nicht neuerdings auch für die Tories?
Bidwell: Bis zu einem gewissen Grad, ja – aber bei der Reform UK zeichnen sich noch größere Probleme ab. So verlief etwa deren Kandidatenkür katastrophal. Die Partei hatte die Prüfung von 400 Bewerbern an eine Privatfirma delegiert – jetzt kündigt Farage an, diese zu verklagen. Zudem strahlt Reform bis auf Farage wenig Energie aus, was es erschwert, Talente an der Basis zu fördern. Farage ist ein beeindruckender Akteur, von seinem Umfeld halte ich dagegen nicht viel.
Wo liegt also die Zukunft der britischen Rechten?
Bidwell: Ich denke, die Tories könnten nach einem langen Kampf viele Ideen von Reform übernehmen und mit einer radikal veränderten Botschaft zurück an die Macht kommen. Also ergibt es mehr Sinn für glaubwürdige und vernünftige Rechte, die Tories wiederaufzubauen.
Obwohl sich viele Rechte das Verschwinden der Tories aus dem Unterhaus wünschen?
Bidwell: Ja. Viele glauben zwar, dann würde eine neue rechte Massenbewegung entstehen – ich halte das aber für sehr kurzsichtig.
Wieso?
Bidwell: Der Aufbau einer neuen Kraft würde mindestens 15 Jahre dauern. Währenddessen wird die kommende Labour-Regierung unter Keir Starmer das Leben der Rechten erschweren – durch die weitere Ermächtigung des Beamtenstaates, noch mehr Masseneinwanderung und noch festere Verankerung gesellschaftspolitisch linker Dogmen in unseren Institutionen.
Verspricht Labour nicht im Wahlprogramm, die Einwanderung zu begrenzen?
Bidwell: Doch, und anfangs wird sie abnehmen. Aber nicht dank deren Politik – die jüngsten Migrationswellen hingen teils mit den Krisen in Hongkong, Afghanistan und der Ukraine zusammen. Da die Sozialdemokraten wahrscheinlich die Visa-Politik der Tories fortsetzen, werden wohl 300.000 Menschen mehr jährlich nach Großbritannien ein- als auswandern – eine viel zu hohe Zahl.
Und was ist mit der Wirtschaftspolitik?
Bidwell: Ich glaube nicht, daß Labour ernsthaft versuchen wird, unseren öffentlichen Dienst zu sanieren, die Wirtschaft auf Wachstumskurs zu bringen oder unsere Abhängigkeit von der Einwanderung zu reduzieren. Dafür sind noch mehr sogenannte Antidiskriminierungsmaßnahmen und noch mehr ideologisch motivierte „grüne“ Politik zu erwarten.
Gibt es andere ungelöste Probleme, die Großbritannien aktuell plagen?
Bidwell: Ja. Weder die Labour noch die Tories haben wirklich begriffen, wie unhaltbar unser Wohlfahrtsstaat und unser öffentlicher Dienst sind. Etwa unser Rentensystem, welches 2035 pleite zu gehen droht. Oder unsere Gesundheitsversorgung, die trotz steigender Ausgaben immer schlechtere Leistungen hervorbringt. Oder unser Baurecht, welches die Errichtung neuer Häuser und Infrastruktur erfolgreich verhindert.
Trägt der Brexit eine Mitschuld an den Problemen?
Bidwell: Nein, nicht wirklich. Seit wir die EU verlassen haben, können wir unser Migrationssystem, unsere Außenpolitik und unseren Rechtsrahmen stärker steuern. Zwar nutzen wir diese zusätzlichen Befugnisse meiner Meinung nach nicht optimal aus – doch die meisten neuen Probleme seit dem EU-Austritt hängen mit strukturellen Faktoren zusammen.
Wie sollte die Politik diese strukturellen Probleme angehen?
Bidwell: Wir müssen wieder Sinn dafür entwickeln, daß Politik auch bedeutet, zu gestalten. Wie gesagt brauchen wir einen Plan, wie wir den bremsenden Beamtenstaat abbauen. Gleichwohl liegen viele Fehlentwicklungen auch daran, daß unsere Politiker in fünfjährigen Wahlperioden denken und schwierige, langfristige Entscheidungen scheuen. Wir müssen uns vom Denken verabschieden, in der Politik ginge es ums Einschleimen bei den Wählern.
Mit Sympathien bei den Wählern scheint die Rechte aber ein Problem zu haben – jedenfalls bei den jungen. Mehr als 80 Prozent im Alter von 18 bis 24 Jahren will für Parteien links der Mitte stimmen.
Bidwell: Ist das wirklich verwunderlich? Das Wohnen ist sehr teuer geworden, die Löhne stagnieren, und es wird immer schwerer, eine Familie zu gründen. Unser Wirtschaftsmodell verhindert, daß junge Leute Vermögen aufbauen können. Hinzu kommt, daß unsere Institutionen den jungen Briten die eigene Kultur, Geschichte und natürliche Reflexe madig machen. Und gleichzeitig kann die Rechte nicht aufzeigen, daß unsere bewährten gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und institutionellen Strukturen die gewünschten Zustände hervorbringen können.
Gibt es einen Ausweg?
Bidwell: Auf jeden Fall! Beispiele wie Neuseeland zeigen, wie die Rechte unter den Jungwählern an Zulauf gewinnen könnte. Auch in Großbritannien holte Tory-Galionsfigur Margaret Thatcher die meisten Jungwählerstimmen bei den Wahlen 1979 und 1983, weil sie mit wirtschaftsliberaler Politik der jungen Generation mehr Teilhabe an der Gesellschaft versprach.
Ist dieser Wirtschaftsliberalismus eben nicht das Problem? Das denken viele unter den deutschen Rechten.
Bidwell: Welcher denn? Wir haben mehr Aufsichtsbehörden denn je, die höchste Steuerbelastung seit den Achtzigern und ein grottenschlechtes Baurecht. Der Staat mischt sich stärker denn je in unser Wirtschaftsleben ein! Wenn wir wollen, daß junge Leute Hauseigentum besitzen, über Kapital verfügen und genug Geld haben, um Familien zu gründen, brauchen wir nicht weniger, sondern mehr Wirtschaftsliberalismus.Kuba Kruszakin
Sam Bidwell leitet das Forschungszentrum „Next Generation Centre“ der liberalen Denkfabrik „Adam Smith Institute“ in London. Regelmäßig publiziert er bei The Critic, seine Gastbeiträge erscheinen in The Daily Telegraph und The Spectator. Bidwell wurde 2000 in Chester geboren und erwarb in Cambridge einen Abschluß in Rechtswissenschaften. www.adamsmith.org.