© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/24 / 21. Juni 2024

„Card only“
Einige umstrittene Gastroriten greifen auch in Deutschland immer mehr um sich
Gil Barkei

Die American-Bar-Kultur, Softdrinks, Burger, Fast Food, Fertiggerichte, Riesensteaks, BBQ aus dem Smoker, Tex-Mex-Fusionküche, gern aus Foodtrucks serviert. Egal, was man davon hält, verteufelt, geliebt oder einfach unterschätzt: die Vereinigten Staaten haben der Gastroszene seit über einhundert Jahren ihren Stempel aufgedrückt – erst recht auch in Deutschland. Doch fern der rein kulinarischen Seite breiten sich derzeit US-Sitten hierzulande aus, die noch stärker umstritten sind. Die Corona-Krise hat diese Entwicklungen zwar beschleunigt, sie ist jedoch nicht der Ursprung.

„Haben Sie einen Tisch reserviert?“, fragt der Ober in einem Berliner Ausgehquartier etwas pampig, da sich unsere Gruppe bereits ins gähnende Leer der aufgereihten Stühle gesetzt hat. „Nein, aber es sind ja alle Tische frei, und nirgends steht ein Schildchen“, lautet die Antwort, unterstützt von dem Umstand, daß es noch Nachmittag ist. „Aber Sie werden plaziert“, lautet etwas eingeschnappt die Erwiderung.

„Sharing table“, „App-Bezahlung“ und „Time Slots“

In der Tat ist im Eingangsbereich ein kleiner Stehtisch positioniert, hinter dem in den USA erfahrungsgemäß eine attraktive junge Dame wichtig in einem Heftchen blättert und dabei eingehende Anrufe entgegennimmt. Ein kleiner Aufsteller wiederholt den Satz in Schriftform: „Sie werden plaziert.“ In der Spitzengastronomie vielleicht seit langem Usus, aber in einem normalen Restaurant? Bei Laufkundschaft und spontanen Entdeckern, die früher viele Gastgeber in ihr Lokal lotsen wollten? Der Gast als Bittsteller, flehend sein Geld doch unbedingt hier raushauen zu dürfen. Das waren noch Zeiten, als er königgleich den Laden betrat und als erwachsener Mensch selbst erkennen konnte, wo ein leerer Tisch frohlockte und der Kellner durch ein freudiges Pro-Forma-Nicken signalisierte: Natürlich gern (Sie sehen ja selbst, wo was frei ist und wo nicht, also nicht so schüchtern). Heute wird man oft gemäß Sardinenbüchsen-Optimierungs-Tetris per Tischsoftware eingeplant: Zweierblock hier, Dreier- und Vierertische dort, „Sharing-Table“ – ganz neu – dort drüben.

Am Platz geht es weiter: „Sie haben diesen Tisch jetzt für zwei Stunden.“ Online-Reservierungs-Time-Slot-Albtraum: Längst kalkulieren viele Restaurants mit mindestens zwei Service-Durchgängen am Abend. Essen unter Spielfilmlängen-Zeitdruck. Wie wunderbar es war, als der Abend spontan aus einer unvorhergesehenen Dynamik heraus so schön verlief, daß man doch noch einen Nachtisch, einen späten Probierhappen oder eine nächste Flasche bestellt hat; überraschend oder per Handy kurzgeschlossen noch Freunde dazugekommen sind, die Hemdkragen, Servietten und Sitzpositionen gelockert wurden und alle Zeichen von den zunehmenden Tischdeckenflecken bis zum Gläserwirrwarr stark auf Versumpfen bis tief in die Nacht standen – bis die Tischkerzen wild flackernd ganz nach unten heruntergebrannt waren. Das hat wahre angesagte Szenelokale ausgemacht. Jetzt heißt es Dessert ja oder nein, Uhr abgelaufen, tick tack, Rechnung, notfalls auch unverlangt, Danke, Tschüß – wie in der gehetzten Mittagspause.

Und wenn man Pech hat, wird einem das Ganze in schlechtem Englisch verklickert. In manchen Gegenden in Berlin oder anderen Metropolen sprechen viele Kellner gar kein Deutsch mehr. Internationale Lebenskünstler-Hipster bedienen internationale Lebenskünstler-Hipster, ein geschlossenes Gastro-Disneyland. Einheimischer ist, wer länger als drei Jahre schon hier wohnt. Und so versucht man sich an den Englischbrocken mit spanischem, italienischem, französischem und osteuropäischem Akzent entlangzuhangeln, um vielleicht doch noch bar bezahlen zu können. Aber ein weiteres Schild am Eingang – insbesondere bei kleinen Bistros und Imbissen beliebt – hatte es ja bereits verkündet: „Card only“. Ein Burgerlokal akzeptierte kürzlich sogar nur App-Bestellung und -Bezahlung – auch für den Menschen am Grill werden Robotik und KI bald eine Alternative parat haben.

Bei der Bezahlung dann oftmals der nächste Ami-Standard: Das Gerät gibt einem drei Trinkgeld-Optionen auf dem Touchdisplay vor: „5 Prozent“, „10 Prozent“, „15 Prozent“. Einige ganz Freche tauschen die 5er-Variante durch ein „20 Prozent“-Feld aus. Ist das jetzt Touri-Nepp oder Eingeborenenschröpfung? Angesichts dessen vergißt man glatt die Sorge, ob die „Service“-Kräfte auch wirklich alles von dem generösen, einst mit einem verschwörerischen Blick persönlich in die Hand gedrückten Betrag bekommen – fehlt nur noch, daß sie sich wie in New York & Co. anfangs mit ihrem Namen vorstellen. 

Ein Trend ist allerdings positiv hervorzuheben, auch wenn einige diesen ebenfalls ablehnen: Essen am Tresen. In Deutschland früher oft der Wartebereich, an dem man bei einem Glas aufs Haus auf einen Tisch gewartet hat, ist die Theke zu einer ernstzunehmenden, teils bereits eingedeckten, vollwertigen Dinner-Stätte geworden. Für manche der beste Platz überhaupt. Hier hat man den totalen Überblick: über die Gäste, den Raum, die Atmosphäre, das interessante Geschehen hinter der Bar, launige Gespräche mit dem Personal inklusive. Und bei einer offenen Küche – die hierzulande ebenfalls immer beliebter wird – kann man den Köchen bei der Zubereitung der Speisen zu- und sich einige Handwerkspraktiken direkt abschauen. Es ist eben doch nicht alles schlecht.