© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/24 / 21. Juni 2024

Frisch gepresst

Völkermord. Raphael Lemkin (1900–1959), der polnisch-jüdische Vater der UN-Völkermordkonvention von 1948, sah auch in der Vertreibung von vierzehn Millionen Deutschen, die am Ende des Zweiten Weltkriegs in den östlichen Provinzen des Deutschen Reiches und in angrenzenden Siedlungsgebieten stattfand, einen Völkermord. Dieser begann für Lemkin nicht erst mit der physischen „Ausrottung“, sondern mit der „Zerstörung nationaler Gruppen als solcher in ihrer sozialen Existenz“. Der Deutsche Bundestag schloß sich 1954 beim Beitritt zur UN-Konvention Lemkins breitem Genozidverständnis an. Mit wachsender Bedeutung des Genozids an den Juden Europas wurden Völkermord und Judenvernichtung zunehmend gleichgesetzt. Vor kurzem führte die Debatte über deutsche „Kolonialschuld“ erneut zu einem Begriffswandel, nachdem die Bundesregierung die militärische Niederschlagung des Herero-Aufstands im früheren Deutsch-Südwestafrika als Genozid klassifiziert hatte. Im vergleichenden Blick auf die Unschärfe und den Wandel des Völkermordbegriffes in der deutschen Erinnerungskultur, zwischen rechten Instrumentalisierungen und linken Verengungen, plädiert Manfred Kittel, von 2009 bis 2015 Gründungsdirektor der Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung, im Sinne Lemkins für seine weite Auslegung als „Zerstörungsgenozid“. (dg)

Manfred Kittel: Die zwei Gesichter der Zerstörung. Raphael Lemkins UN-Genozidkonvention und die Vertreibung der Deutschen. Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2023, broschiert, 181 Seiten, 19,90 Euro




Vertreibung. Schweigen ist Verrat, letzteres wirft Mario Kandil der bundesdeutschen Politik in der Frage der Vertriebenen vor, auch wenn seit 2015 alljährlich der 20. Juni als Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung in Deutschland gilt. Das Unrecht, welches den Deutschen in Mittel- und Osteuropa widerfahren ist, fordere demnach politische Verantwortung. Der deutsch-ägyptische Historiker schildert die Geschehnisse in Umrissen in der jüngsten Eckartschrift. In emotionalen Tönen prangert er das Handeln der Sowjets und der Vertreiberstaaten, die ausgelebten Rachegelüste von Polen und Tschechen sowie den mangelnden Einsatz westlicher Alliierter für die Vertriebenen an. Kandil schließt sich der Auffassung an, die massenhafte Vertreibung sei ein Völkermord gewesen. Er beklagt eine herrschende Doppelmoral in dieser Frage und fordert ein „Recht auf Rückkehr“ nach dem Vorbild der Palästinenserpolitik der Vereinigten Nationen – zumindest symbolisch. Er hofft zudem, daß sich eine selbstkritische Sicht auf die Taten nach dem Zweiten Weltkrieg auch in den verantwortlichen Ländern wie Polen durchsetzt. (kuk)

Mario Kandil: Die deutschen Vertreibungs­verluste 1944 bis 1948. „Kein Unrecht rechtfertigt anderes Unrecht.“ Eckartschrift 256. Österreichische Landsmannschaft, Wien 2024, broschiert, 111 Seiten, 11,50 Euro