© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/24 / 21. Juni 2024

Katastrophe an der Ostfront
Das sowjetische Unternehmen „Bagration“: Die Vernichtung der Heeresgruppe Mitte durch eine gewaltige Übermacht nach dem 22. Juni 1944 ließ die Rote Armee bis an die Weichsel vorstoßen
Dag Krienen

Am 22. Juni 1944 hielt das Kriegstagebuch der zur Heeresgruppe Mitte gehörenden 9. Armee fest: „Die 9. Armee steht am Vorabend einer neuen gewaltigen Schlacht, über deren Ausmaß und Dauer nur Mutmaßungen möglich sind. Eines ist jedoch sicher: Der Feind hat vor der Armeefront in den letzten Tagen und Wochen einen Aufmarsch allergrößten Stils durchgeführt.“ Tatsächlich begann die Rote Armee an diesem Tag eine Großoffensive gegen die Heeresgruppe Mitte, die zur schwersten Niederlage führte, die die Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg erleiden sollte. 

Wegen der Invasion fehlten im Osten die entscheidenden Kräfte

Hitler hatte in seiner Weisung Nr. 51 vom 3. November 1943 der Verstärkung der Wehrmacht im Westen zur Abwehr einer alliierten Landung Priorität eingeräumt. Er hoffte, zunächst die Invasionskräfte der Westmächte vernichten und dann mit den dort freiwerdenden 35 Divisionen im Osten wieder offensiv werden zu können. Das Ostheer erhielt deshalb in der ersten Jahreshälfte 1944 nur in unzureichendem Maße Verstärkungen an Waffen, Munition und Mannschaftsersatz. Die Frontlänge betrug insgesamt 2.100 Kilometer, von denen allein 1.100 Kilometer auf die Heeresgruppe Mitte entfielen. Der Chef des Wehrmachtführungsstabes, Generaloberst Jodl, resümierte: „Eigenes Kräfteverhältnis läßt infolge Frontlänge durchlaufendes Stellungssystem (...) nicht zu, zwingt zu stützpunktartiger Besetzung und beweglicher Kampfführung, wobei Flanken- und Rückenbedrohungen in Kauf genommen werden müssen.“ Doch zu einer beweglichen Führung der Abwehrschlacht, die bislang eine Stärke der Wehrmacht gewesen war, fehlten ihr nun im Osten die Mittel. Eine operative Reserve aus Panzerdivisionen gab es nicht. Nach der gelungenen Invasion der US-Amerikaner, Briten und Kanadier (JF 24/24) war eine solche auch im Westen nicht mehr freizumachen. 

Die Rote Armee war schon seit dem Sommer 1943 in der Lage gewesen, an nahezu allen Stellen der Front fast gleichzeitig große Offensiven zu starten (JF 14/24). Die Heeresgruppe Mitte hatte bis dato aber alle Angriffe abwehren und ihre Stellungen halten können, während der Feind weiter südlich die Deutschen bis an die Grenze Galiziens zurückgedrängt hatte. Dadurch war ein „Frontbalkon“ entstanden, bei der die Heeresgruppe sogar noch einen Brückenkopf am Ostufer des Dnjepr hielt, dafür aber eine langgestreckte Südflanke besaß. Ein Großangriff gegen die südlich anschließende Heeresgruppe Nordukraine stellte in deutschen Augen die größte Gefahr dar, da dieser zu einem Vorstoß über Warschau bis an die Ostseeküste führen konnte, wodurch die Heeresgruppen Mitte und Nord eingekesselt worden wären. Die deutsche Abteilung Fremde Heere Ost erwartete dort die sowjetische Hauptoffensive des Sommers 1944.

Tatsächlich hatte das sowjetische Oberkommando diese Möglichkeit auch erwogen, aber für zu riskant befunden und sich für die „kleinere“ Lösung eines Großangriffs auf die Heeresgruppe Mitte entschieden. Die Deutschen ließen hingegen die Masse der Verstärkungen, die für die Ostfront überhaupt verfügbar waren, der Heeresgruppe Nordukraine zukommen. Angriffsvorbereitungen auf die Heeresgruppe Mitte wurden zwar durchaus erkannt, aber ihr Umfang unterschätzt. Deren Oberbefehlshaber, Generalfeldmarschall Ernst Busch, tat die von seinen Untergebenen kommenden Warnungen ab. Er lehnte auch die in seinem Generalstab ausgearbeiteten Pläne zum rechtzeitigen Rückzug auf Stellungen an Dnjepr und Düna und gegebenenfalls hinter die Beresina ab, nachdem sich Hitler dagegen entschieden hatte. Dieser bestand vielmehr darauf, im Bereich der Heeresgruppe zwölf „feste Plätze“ einzurichten, wo sich die Verteidiger notfalls einschließen lassen sollten, um als Wellenbrecher der sowjetischen Angriffe zu dienen. (https://JUNGEFREIHEIT.de/ wissen/geschichte/2024/ Der „Führerbefehl“ führte zur „Kesselpsychose“). 

Die Heeresgruppe Mitte besaß im Juni 1944 nur eine Panzerdivision als operative Reserve. Die ihr unterstellte 3. Panzerarmee war dies nur dem Namen nach, sie besaß überhaupt keine Kampfpanzer, gerade mal 76 Sturmgeschütze, dafür aber 60.000 Pferde. Die gesamte Heeresgruppe besaß 117 Kampfpanzer und 377 Sturmgeschütze und bestand zum größten Teil aus abgekämpften und nur durch Pferdezug beweglichen Infanteriedivisionen.

Für die am 22. Juni, dem dritten Jahrestag des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion, beginnende Operation „Bagration“ gegen drei von vier Armeen der Heeresgruppe Mitte – benannt nach einem zaristischen adeligen General georgischer Abkunft, der 1812 in der Schlacht von Borodino tödlich verwundet worden war –, konnte die Rote Armee anfangs 1,25 Millionen Soldaten gegen 340.000 deutsche, 4.100 Panzer und Sturmgeschütze gegen 480, über 24.000 Geschütze und Raketenwerfer gegen knapp 2.600 sowie 6.300 Flugzeuge gegen 900 einsetzen. In der Tiefe des Raumes verfügte sie über weitere Reserven von fast noch einmal derselben Stärke, während die Deutschen begrenzte Verstärkung fast nur durch Abgaben von anderen Teilen der Ostfront erhalten konnten.

Der Großangriff führte binnen kürzester Zeit zu mehreren tiefen Ein- und dann Durchbrüchen durch die deutsche Front. Busch folgte dem Haltebefehl Hitlers, was direkt in die Katastrophe führte. Die Sowjets kesselten bei Witebsk, einem der vom „Führer“ bestimmten „festen Plätze“, eines der drei Armeekorps der 3. Panzerarmee ein, das sich ergeben mußte. Jene Teile, die verspätet einen Ausbruch versuchten, wurden vernichtet, die anderen beiden Korps der Armee schwer angeschlagen. Zur selben Zeit wurden auch zwei der drei Armeekorps der 9. Armee im „festen Platz“ Bobrujsk eingeschlossen. Hier konnte Anfang Juli durch einen Entlastungsangriff zwar noch einmal ein Korridor geöffnet werden, durch den allerdings nur 25.000 der eingeschlossenen 70.000 Soldaten entkommen konnten. 

Am schlimmsten traf es die sich in der Mitte befindende 4. Armee. Auch sie mußte zurückweichen, aber zunächst noch ohne schwere Verluste. Doch die sowjetischen Marschälle Georgi Schukow und Alexander Wassilewski verstanden sich besser als in den Jahren zuvor auf die Operation des „tiefen Stoßes“. Am 3. Juli schloß sich eine gewaltige Zange bei Minsk um die komplette 4. Armee. Zwar versuchten sich deren Divisionen noch in „wandernden Kesseln“ nach Westen durchzuschlagen, wurden aber dabei größtenteils aufgerieben und vernichtet. Nur kleinen Gruppen und einzelnen Soldaten gelang es, als „Rückkämpfer“ zu den deutschen Linien durchzukommen. Damit hatte die Heeresgruppe Mitte binnen zweier Wochen rund 250.000 Mann verloren. 28 der ursprünglich 34 Divisionen ihrer angegriffenen drei Armeen mußten aufgelöst werden oder waren faktisch zerschlagen worden. Stalin ließ am 17. Juli wie in einem antiken römischen Triumphzug fast 60.000 deutsche Gefangene durch Moskaus Straßen treiben. 

Verluste der Wehrmacht betrugen insgesamt fast 450.000 Mann

Am 28. Juni wurde Busch durch Generalfeldmarschall Walter Model als Oberbefehlshaber abgelöst. Dieser ging zu einer beweglichen Verteidigung über, konnte weitere Einkesselungen verhindern und nach der Zuführung von Verstärkungen eine neue Verteidigungslinie aufbauen. Allerdings hatte der Abzug der besten Divisionen der benachbarten Heeresgruppe Nordukraine zur Folge, daß diese die am 13. Juli begonnene sowjetische Offensive in Galizien nicht aufhalten konnte. Die Rote Armee stieß in zwei Wochen bis zur Weichsel durch und drang weiter nach Norden in Richtung Warschau und Ostpreußen vor, bis es Model Anfang August gelang, in der sogenannten „Panzerschlacht vor Warschau“ ein weit vorgestoßenes sowjetisches Panzerkorps einzukesseln und zu vernichten. Die deutsche Front stabilisierte sich danach, auch aufgrund der Abnutzung und der Nachschubschwierigkeiten der Angreifer, entlang von Weichsel, Narew und ostpreußischer Grenze. 

Die Operation Bagration stellte eine vernichtende Niederlage der Wehrmacht dar. Ihre Verluste betrugen insgesamt 400.000 bis 450.000 Mann und riesige Mengen an Waffen und Material, praktisch den Gesamtbestand von drei Armeen. Zwar waren die Verluste der Roten Armee mit rund 770.000 Mann sowie 3.000 Panzern und Sturmgeschützen noch größer. Aber sie konnte, wie schon in den vorangegangen Monaten, Verluste auch in dieser Höhe verkraften und rasch ersetzen. Die Deutschen erlitten hingegen zwischen Juni und August sowohl im Westen als auch im Osten schwere Niederlagen und standen nun strategisch endgültig mit dem Rücken zur Wand.

Foto: Stalin läßt fast 60.000 deutsche Kriegsgefangene der „Operation Bagration“ am 17. Juli 1944 durch Moskau führen: 28 der ursprünglich 34 Divisionen der Heeresgruppe Mitte wurden zerschlagen