Als 1967 das Buch des Genealogen Joseph Valynseele über die Thronprätendenten Europas erschien, war der Abschnitt zur Lage Frankreichs der längste. Dafür gab es zwei Gründe: die Tatsache, daß die Monarchie hier, anders als in den übrigen behandelten Ländern, bereits 1792 gestürzt worden war, und die Tatsache, daß die Restaurationsversuche in der Folge eine ganze Reihe konkurrierender Anwärter auf den Thron hervorgebracht hatten. Deshalb standen neben Legitimisten, die für das Haus Bourbon eintraten, und Orléanisten, die dessen Nebenzweig die Treue hielten, auch noch Bonapartisten, die ein Kaiserreich unter einem neuen Napoleon ersehnten.
Der Einfluß dieser Gruppen schwand allerdings in dramatischem Tempo, nachdem die 1871 gegründete – Dritte – Republik eine gewisse Stabilität erreichte. Die Milieus, auf die sich die Anhänger der Dynastien bis dahin gestützt hatten, verloren durch die gesellschaftliche Entwicklung an Bedeutung, und die Vergeblichkeit aller Anstrengungen ließ viele Königs- oder Kaisertreue resignieren. Insofern war kaum zu erwarten, daß ein Neo-Royalismus zum Fokus einer politischen Bewegung mit starker Ausstrahlungskraft werden konnte. Aber eben das geschah mit Gründung der Ligue d’Action française (AF) am 20. Juni 1899.
Anfangs unterschied sich die AF kaum von anderen nationalistischen Ligen, die während der Dreyfus-Affäre entstanden. Die Republik als Staatsform stellte man nicht grundsätzlich in Frage, wollte ihr aber eine autoritäre Verfassung geben. Das änderten der Beitritt des Schriftstellers und Journalisten Charles Maurras und die Gründung einer Monatsschrift unter dem Titel L’Action française. In der ließ Maurras 1900 seine „Enquête sur la monarchie“ – „Untersuchung über die Monarchie“ erscheinen, die die Doktrin lieferte, die zur weltanschaulichen Basis der AF werden sollte.
Einige Jahre später, 1908, machte man L’Action française zur Tageszeitung, die Maurras ein Instrument bot, mit dessen Hilfe er die öffentliche Meinung nachhaltig beeinflussen konnte. Gleichzeitig wurde der Aufbau der AF gestrafft und eine militante Jugendorganisation geschaffen, die Camelots du Roi, die „Straßenjungen des Königs“, die nicht nur die Zeitung verkauften und Propaganda machten, sondern auch handgreifliche Auseinandersetzungen mit den Ordnungskräften der Republik wie den Gegnern auf der Linken austrugen.
In ihrer anspruchsvollen Version war die Ideologie der AF ein, vor allem durch Maurras geschaffener, Entwurf von imponierender Geschlossenheit, der den Positivismus ebenso einschloß wie ein letztlich von psychologischen Erwägungen ausgehendes Bekenntnis zu Tradition und Religion. Denn Maurras war keineswegs Legitimist. Seine Entscheidung zugunsten des Hauses Orléans folgte rationalen Erwägungen. Dasselbe galt für das ganze Projekt des „Integralen Nationalismus“: die Stellung des zukünftigen Königs war eher die eines gekrönten Diktators, die Stände dachte er als Berufskorporationen, und die Wiederherstellung der Provinzen durfte keine Gefahr für die äußere Machtentfaltung Frankreichs sein. Schließlich war die positive Haltung zum Katholizismus nicht aus persönlichem Glauben gespeist. Maurras bekannte offen, Agnostiker zu sein, vertrat aber die Überzeugung, daß die Kirche das stärkste verbliebene Bollwerk gegen die Republik war und die lateinische – eigentlich heidnisch-antike – Tradition verkörperte.
Der Rückhalt, den die AF im französischen Episkopat und in großen Teilen der katholischen Eliten fand, hatte vor allem mit der gemeinsamen Frontstellung und damit zu tun, daß die populäre Version der von der AF vertretenen Weltanschauung erfolgreich auf die Agitation der Massen setzte, die Größe Frankreichs und seiner Überlieferung feierte, vor allem aber antideutsch und antisemitisch, antifreimaurerisch und antiparlamentarisch argumentierte.
Nur während des Ersten Weltkriegs übte Maurras Zurückhaltung und auch nur auf innenpolitischem Feld. Das heißt, die AF hetzte weiter gegen die „boches“, unterstützte aber die Union sacrée, also den innerfranzösischen „Burgfrieden“. Diese Atempause endete jedoch 1919, als Maurras den Kampf gegen das „Regime“ mit unverminderter Schärfe wieder aufnahm. Ausschlaggebend war dabei die Empörung über den aus seiner Sicht zu milden Versailler Frieden, der die Zerstörung Deutschlands verhindert hatte, und das Aufkommen einer neuen Gefahr in Gestalt des Kommunismus, deren Abwehr man der Demokratie nicht zutraute. Tatsächlich konnte es wegen der notorischen Schwäche der französischen Regierungen in den 1920er Jahren scheinen, als würden sich für die AF Möglichkeiten bieten, einen Umsturz herbeizuführen, wenn sie die Unterstützung von Teilen der Armeeführung gewann.
Verdammung durch katholische Kirche führte zur Krise der AF
Doch scheiterte jede Fühlungnahme der Action mit hohen Offizieren, während sie gleichzeitig in eine Existenzkrise geriet. Eine Ursache war die Verdammung durch die katholische Kirche am 29. Dezember 1926, eine andere der Aufstieg des Faschismus. Das Verdikt Papst Pius XI., der Bücher von Maurras auf den Index setzen und ab 1927 den Mitgliedern der AF die Sakramente verweigern ließ, führte zu einem dramatischen Bedeutungsverlust im katholischen Frankreich. Gleichzeitig erwies sich der Faschismus als unliebsame Konkurrenz.
Fraglos wirkte der Faschismus im Vergleich zur AF moderner und zeitgemäßer, vor allem aber dynamischer, zumal Maurras es nicht verstand, die bedrängte Lage des „liberalen Systems“ (Ernst Nolte) angesichts der Weltwirtschaftskrise politisch zu nutzen. Vielmehr erstarkten seine Gegner, und die linken Volksfrontregierungen erhöhten sukzessive den Druck auf die Nationalisten. Schließlich wurde die AF 1936 verboten, obwohl ihr keine direkte Beteiligung an der terroristischen Geheimorganisation Cagoule nachgewiesen werden konnte.
Nur einmal noch und unerwartet schienen sich die Dinge zugunsten von Maurras zu wenden, als die Republik infolge der militärischen Niederlage von 1940 zusammenbrach. Maurras, der vor einem weiteren Waffengang gegen Deutschland gewarnt hatte, weil er die Schwäche Frankreichs ahnte, nannte die Regierungsübernahme Marschall Pétains – nicht etwa die Niederlage – eine „surprise divine“, eine „göttliche Überraschung“, und tatsächlich kam die Verfassung des nun geschaffenen Etat Français den Wunschvorstellungen der AF sehr entgegen. Allerdings überschätzte Maurras die Handlungsmöglichkeiten Pétains, von dem er sich bald wieder abwandte. Das trug zu seiner Isolation ebenso bei wie die unbeirrt antideutsche Haltung, die ihn jede „Kollaboration“ mit dem Reich ablehnen ließ, oder die Feindseligkeit gegenüber der Résistance, zu deren ersten Kommandos Männer der AF gehörten.
Dieser Einsatz konnte das neuerliche Verbot der AF nach der Befreiung Frankreichs ebensowenig verhindern wie die Verhaftung und Verurteilung von Maurras wegen Hochverrats. Auch wenn seine Bücher bald in neuen Auflagen erschienen und sich der harte Kern seiner Anhänger wieder sammelte, konnte der „Integrale Nationalismus“ nie etwas von seiner früheren Bedeutung zurückgewinnen.