Die jüngste – gute – Nachricht über den Wiederaufbau der Kirche Notre-Dame in Paris lautet, daß das dreizehn Meter hohe Kreuz des Nordturms aufgerichtet wurde. Das Kreuz ist das einzige Element des Dachs, das dem verheerenden Brand im April 2019 standgehalten hat. Es war zwar aus der Höhe herabgestürzt und beschädigt worden, entging aber wie durch ein Wunder der vollständigen Zerstörung. Die Restaurierung war trotzdem eine schwierige Aufgabe. Der Besitzer der Spezialwerkstatt in der Normandie, die die Arbeiten durchgeführt hat, spricht von einem „Zwei-Tonnen-Mikado“, das es vorsichtig zu ordnen galt.
Im Grunde ist dieser Vorgang symptomatisch für den Gang der Arbeiten an Notre-Dame, nachdem alle Pläne zu einem radikalen Um- oder Neubau der Kirche vom Tisch sind. Wie ein letzter Vorstoß in diese Richtung wirkte noch die Nachricht vom Ende vergangenen Jahres, daß Staatspräsident Macron dem Wunsch des Pariser Erzbischofs zugestimmt habe, die Gestaltung von sechs Fenstern modernen Künstlern zu übertragen. Die Reaktion kam prompt: Es wurde eine Petition organisiert, die mittlerweile 150.000 Unterschriften gesammelt hat, um die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands zu erreichen.
Wobei man betonen muß, daß der ursprüngliche Zustand nicht etwa der des Mittelalters, sondern der des 19. Jahrhunderts ist. Denn die besagten Fenster gehen auf Entwürfe des Architekten und Denkmalpflegers Eugène Viollet-le-Duc zurück, der seit den 1840er Jahren die maroden und die während der Revolution zerstörten Teile von Notre-Dame ersetzt, aber den Bau auch um bestimmte Elemente ergänzt hat, die seinem Ideal der Gotik entsprachen, ohne historisch zu sein. Dazu gehörte auch der Dachreiter über der Vierung oder die berühmten Chimären auf dem Umgang der Türme.
Napoleon hielt in Notre-Dame seine Krönungsfeier als Kaiser ab
Ohne Zweifel atmete das Vorgehen Viollet-le-Ducs den Geist der Romantik. Zu deren bedeutenden literarischen Vertretern in Frankreich zählte der Schriftsteller Victor Hugo, der mit seinem 1831 erschienenen Roman „Notre-Dame de Paris 1482“ – zu deutsch: „Der Glöckner von Notre-Dame“ – das breitere Interesse an der Kirche überhaupt erst geweckt hatte. Ohne diesen Impuls wäre der Verfall des Gebäudes wahrscheinlich ungehindert weitergegangen.
Zu erklären ist das auch dadurch, daß die Sonderstellung Notre-Dames unter den ersten Kirchen Frankreichs nie eine Selbstverständlichkeit war. In Konkurrenz standen die Kathedrale von Reims, der traditionelle Krönungsort der Könige, die Abtei von Saint-Denis als Grablege der Dynastien und die Sainte-Chapelle – gegenüber von Notre-Dame auf der Ile de la Cité – als integraler Bestandteil des Palastes. Trotzdem war nur Notre-Dame die cathédrale royale, die „königliche Kathedrale“, das heißt nicht allein Hauptkirche der Bischöfe, dann Erzbischöfe, von Paris, sondern auch Pfarrkirche des Hofes. Hier fand nach den Siegen französischer Heere das feierliche Te Deum statt, hier wurden – vor allem bei Begräbnissen hochgestellter Persönlichkeiten – die sogenannten Menus-Plaisirs abgehalten, aufwendige Feierlichkeiten, zu deren Durchführung man eine eigene Behörde bildete, hier brachten die Monarchen durch ihre Stiftungen jene besondere Marienfrömmigkeit zum Ausdruck, die für Frankreich bestimmend war.
Sicher hat schon der romanische Vorgängerbau Notre-Dames eine politisch-theologische Doppelaufgabe erfüllt. Erst ab 1163 wurde er durch eine Kirche im „neuen Stil“ ersetzt, den man später (und im abschätzigen Sinn) als „gotisch“ bezeichnete. Der heute vorherrschende Eindruck der Helle ist allerdings nicht ursprünglich. Im Mittelalter waren die Figuren der Fassade bemalt und die (unter dem Einfluß der Aufklärung entfernten) bunten Glasfenster dürften für eine eher mystische Atmosphäre gesorgt haben. Unverändert blieb allerdings der Eindruck von Geschlossenheit, Monumentalität und Eleganz, den vor allem die wunderbare Fensterrose der Vorderfront und die gotische „Entmaterialisierung“ der Wände bewirken.
Ihren gotischen Charakter hat Notre-Dame über die Zeit weitgehend bewahrt, auch und gerade, als sie seit dem 18. Jahrhundert einen Teil ihrer religiösen Bedeutung einbüßte. In wachsendem Maß zog sie nicht mehr die Gläubigen an, sondern Besucher, die ganz weltlichen Interessen folgten und die große Zahl von Gemälden bewundern wollten, die an den Säulen aufgehängt waren. Den entscheidenden Bruch bedeutete aber erst die Französische Revolution. Notre-Dame wurde in Staatseigentum überführt und viele Kunstwerke, die sie beherbergte, zerstört. Dann befahl die Nationalversammlung die Umwidmung in einen „Tempel der Vernunft“, zuletzt in einen „Tempel des Höchsten Wesens“, zu dessen Ehren sogar ein seltsamer Mummenschanz als Gottesdienst veranstaltet wurde.
Erst nach dem Abschluß des Konkordates zwischen Frankreich und dem Heiligen Stuhl im Juli 1801 konnten wieder regelmäßig Gottesdienste in Notre-Dame stattfinden. Napoleon ließ auch die Dornenkrone Christi als wertvollste Reliquie (die vorher in der Sainte-Chapelle aufbewahrt worden war) übergeben und entschied, dort – nicht wie die Könige in Reims – seine Krönungsfeier als Kaiser der Franzosen abhalten zu lassen. Ein einmaliger Akt, wie sich zeigen sollte. Aber das, was der Kunsthistoriker Thomas Gaehtgens in seiner Geschichte von Notre-Dame deren „charismatische Wirkung“ nennt, ging nicht verloren. Trotz der strikten Trennung von Staat und Kirche, die die französische Verfassung festlegt, wurden die „grands hommes“ der Dritten und Vierten und werden bis heute die verstorbenen Präsidenten der Fünften Republik in der Kathedrale ausgesegnet.
Wallfahrt von sieben Orten des Landes sternförmig auf Paris zu
Daß an diese Tradition angeknüpft werden kann, ist durch den Fortgang der Wiederherstellung von Notre-Dame gesichert. Dazu gehört vor allem die Rekonstruktion des sogenannten „Waldes“ aus 1.200 Eichenstämmen, die den Dachstuhl bilden, die am 12. Januar dieses Jahres abgeschlossen werden konnte. Auch die Restaurierung der drei Giebel ist beendet und die monumentalen Statuen von Christus, und Saint-Denis haben ihren Platz an der Spitze des Süd- und Nordgiebels wieder eingenommen.
Gleichzeitig hat man das Eindecken des Kirchenschiffs und des Chors vorangetrieben, während im Innern die Restaurierung der Gewölbe abgeschlossen, die Kunstgegenstände gereinigt und ein neues Brandschutzsystem installiert wurde, um das Ausbrechen eines neuerlichen Großfeuers zu verhindern. Schließlich sind die 8.000 Pfeifen der großen Orgel nach ihrer Reinigung wieder eingebaut, und das Stimmen des Instruments hat begonnen, das etwa sechs Monate in Anspruch nehmen dürfte.
Im Inneren der Kathedrale ermöglicht der Abbau der Gerüste im Chorraum außerdem den Zugang zu den großen Werken, die in der Kathedrale verbleiben mußten. Sie wurden von Fachleuten gesäubert und restauriert: Marmor- und Bronzestatuen, Gitter oder auch Chorgestühl und Schreinerarbeiten sowie die bemalten Dekorationen der Chorkapellen, die nun wieder ihre Farben und ihre frühere Schönheit zeigen.
Bis zum Beginn der Olympischen Spiele in Paris am 26. Juli soll das Äußere von Notre-Dame fast vollständig wiederhergestellt sein. Ein Vorgang, der auf mehr oder weniger ungeteilte Zustimmung rechnen darf. Anders die „Wallfahrt der sieben Straßen“, die von sieben Orten des Landes sternförmig auf Paris zuführen und am 14. September auf dem Vorplatz von Notre-Dame enden soll. Mehrere tausend Menschen werden unter dem Schutz eines Heiligen, dessen eigens angefertigte Statue vor ihnen hergetragen wird, am 28. Juli aufbrechen: der Zug St. Michael vom Klosterberg Mont Saint-Michel in der Normandie aus, der Zug St. Anna vom bretonischen Quimper, der Zug St. Martin von der Ile de Ré, der Zug St. Joseph von Lyon, der Zug St. Jakob von Brive la Gaillarde, der Zug der Heiligen Johanna von ihrem „heiligen Berg“, dem lothringischen Sainte-Odile, aus, der Zug des Heiligen Benoit-Joseph Labre – des „Vagabunden Christi“ – von Boulogne-sur-Mer aus. Hinzu kommt noch ein achter, auf die Ile-de-France beschränkter Zug der „Krone Mariens“ durch die Vorstädte, die berüchtigten Banlieues von Paris, um auch dort das Evangelium zu verkünden. Die linke Tageszeitung Libération hat die Wallfahrt sofort als „rechtes“ Unternehmen von „Integristen“ und „Superfrommen“ kritisiert, worauf eine der Initiatorinnen mit der Bemerkung reagierte: „Wir sind Katholiken, wir sind Franzosen – das ist unsere Identität.“
Die Wiedereröffnung der Kathedrale Notre-Dame ist für den 8. Dezember 2024 angekündigt.
Foto: Arbeiter jubeln, nachdem sie das Kreuz der Kathedrale Notre-Dame de Paris wieder angebracht haben (24. Mai 2024): Das Croix du Chevet ist das einzige Stück des Dachs der römisch-katholischen Kirche, das bei dem verheerenden Feuer im April 2019 nicht verbrannt ist www.notredamedeparis.fr