© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/24 / 21. Juni 2024

Filmkritik / Ich bin der Abgrund
Der Müllmann und die Jägerin
Werner Olles

Der kleine Junge droht zu ertrinken. Es zieht ihn unter Wasser, er taucht kurz wieder auf und ruft um Hilfe. Doch seine teilnahmslose Mutter, die in aller Seelenruhe eine Zigarette raucht, hört seine Hilferufe nicht, vielleicht will sie sie auch nicht hören. Schließlich kann er sich mit letzter Kraft aus dem Swimmingpool retten, aber von nun an wird nichts mehr jemals so sein, wie es einmal war.

Dreißig Jahre später ist das Kind ein Mann geworden, der am Comer See Abfälle einsammelt. Nachts zieht der Müllmann (Gabriel Montesi) durch die Bars, Nachtclubs und Bordelle der Gegend. Er trägt einen falschen Schnurrbart und versteckt seinen kahlrasierten Kopf unter einer Perücke, damit die Frauen die tiefen Narben an der Seite seines haarlosen Schädels nicht sehen, die ihn an die brutalen Mißhandlungen seines Stiefvaters erinnern. Immer noch hört der Müllmann dessen Stimme, die ihm befiehlt, was er zu tun hat. So lockt er ältere Prostituierte über 60 an, die alle blond sein müssen. Er foltert und ermordet sie, nachdem er sie unter Drogen gesetzt hat und entsorgt dann ihre Leichen.

Sein Leben ändert sich dramatisch, als er ein junges Mädchen mit einer lila Haarsträhne (Sara Ciocca) kennenlernt, das von Zuhältern in die Prostitution gezwungen wird. Sie will sich im See ertränken, doch der Müllmann rettet sie. Dabei ahnt er nicht, daß er damit eine andere Frau auf seine Spur bringt. Die „Fliegenjägerin“ (Michela Cescon), wie die Mutter eines wegen Mordes an einer Frau verhafteten Sohnes von der Polizeibehörde spöttisch genannt wird, kommt durch eine Reihe sonderbarer Zufälle dem Serienmörder auf die Spur …

Nach den nur wenig überzeugenden Thrillern „Der Nebelmann“(2017) und „Diener der Dunkelheit“ (2019) adaptiert Regisseur und Drehbuchautor Donato Carrisi mit „Ich bin der Abgrund“ („Io Sono L’Abisso“, Italien, 2022) wieder einen seiner eigenen Romane. Diesmal geht es um einen Serienkiller, der seine eigenen schlimmen Gewalterfahrungen und Traumata in neuer barbarischer Gewalt kanalisiert, und um eine verzweifelte Mutter, die dem Teufelskreis ein Ende setzt. Die Handlung dreht sich um die unerschöpflichen Themen Schuld und Sühne, und wie immer bei Carrisi wirkt vieles surreal konstruiert, trotz der stimmungsvollen Atmosphäre, die Kameramann Claudio Cofrancesco schafft, und der guten Darsteller.


DVD/Blu-ray: Ich bin der Abgrund. Plaion Pictures 2024, Laufzeit 121 Minuten