Wer einmal im Sattel einer zweirädrigen Maschine durch die Lande gedüst ist, der weiß, was Freiheit ist. „Ich muß es zugeben: Es raubte mir den Atem!“ Mit diesen Worten beschreibt Kathy (Jodie Comer) ihre erste Motorradfahrt als Anhängsel des lässigen Blondschopfs Benny (Austin Butler, bekannt aus „Elvis“ – JF 26/22). Kathy ist die Erzählerin in dem Film „The Bikeriders“ von Jeff Nichols (Drehbuch und Regie). Das zünftige Rockerdrama huldigt dem Ideal der Freiheit auf zwei Rädern und dem eigentümlichen, mitunter fast familiär anmutenden Zusammenhalt, der die Angehörigen von Motorradclubs auszeichnet.
Der Satz, mit dem Kathy ihre Erzählung beginnt, offenbart aber auch sogleich die Schattenseiten dieser Existenz auf zwei Rädern und oft nah am Abgrund: Sie habe, bekennt die Motorradbraut, nichts als Ärger gehabt, seit sie Benny kenne. Und das hat Gründe. Der Mann, den sie kurz nach der ersten gemeinsamen Tour ins Blaue kurzentschlossen heiratet, gehört zu einer Motorradbande im US-Bundesstaat Illinois, die sich die Vandalen nennt und gelegentlich auch so aufführt. „Obszönität und Motorrad gehören zusammen“, ist einer der wilden Jungs sich sicher. Als Obszönität wird offenbar auch das auf Bennys Jacke aufgenähte Erkennungszeichen der „Vandals Chicago“ aufgefaßt. Als der junge Schnösel sich weigert, die Bar zu verlassen, in der seine Kluft bemängelt wird, kommt es zur Schlägerei. Benny kehrt schwer verletzt nach Hause zurück. Kurz darauf steht die Kneipe in Flammen. Bei Übergriffen auf seine Jungs kennt Bandenchef Johnny (Tom Hardy) kein Pardon.
Die erste Hälfte verlangt dem Zuschauer einiges an Geduld ab
Es ist eine nicht ganz spannungsfreie Freundschaft, die Johnny mit Benny verbindet. Der Anführer sieht in dem Eigenbrötler seinen Kronprinzen. Benny möchte aber lieber ein Einzelgänger mit Anschluß bleiben. Der Regisseur verpaßt leider die Chance, aus diesem Gegensatz zwischen zwei unterschiedlichen Charakteren eine große Erzählung im Stil von „Lawless“ (2012) zu schmieden, dem gewaltigen Gangsterdrama, in dem der bullige Tom Hardy ebenfalls das Oberhaupt einer Horde von Gesetzlosen spielte. Statt dessen gilt das Hauptaugenmerk von Jeff Nichols, zumindest in der ersten von zwei Filmstunden, dem Bandenalltag, den schrägen Typen, die ihn prägen, und einigen nicht besonders bahnbrechenden Erlebnissen. Damit verlangt die erste Hälfte von „The Bikeriders“ dem Zuschauer einiges an Geduld ab. Das Vorgehen hat jedoch Methode. Nichols will damit den Recherchen des Journalisten Danny Lyon seine Reverenz erweisen, die seinem Rockerdrama zugrunde liegen. Lyon recherchierte zwischen 1965 und 1973 in der Motorradclub-Szene und veröffentlichte darüber 1968 sein Kult-Fotobuch „The Bikeriders“. Kein Wunder also, daß der Regisseur viel Wert auf Authentizität legte. Für das erforderliche Zeitkolorit sorgen etliche Schlager der Sechziger, etwa von Muddy Waters und den Shangri-Las.
Kathy erzählt von ihrem Leben in Rocker-Kreisen also nicht einfach so aus Spaß, sie wird in einer Rahmenhandlung, zu der der Film immer wieder zurückspringt, von Danny (Mike Faist) interviewt. Angefangen habe alles, sagt sie, mit dem Schwarzweiß-Melodram „Der Wilde“ (1953), in dem Marlon Brando den Anführer einer Rockerbande spielt, die eine Kleinstadt terrorisiert (JF 14/24). Johnny habe „Der Wilde“ gesehen. Und so benimmt er sich bis in kleinste Gesten hinein wie Marlon Brando in dem Film, was das Subkultur-Porträt von Jeff Nichols und das Spiel von Tom Hardy auch zu einer großartigen Hommage an den Filmklassiker macht. An diesen und an ein anderes filmhistorisches Vorbild: „Easy Rider“ (1969) mit Peter Fonda und Dennis Hopper, ein Meilenstein des US-Kinos, über den man kein weiteres Wort verlieren muß.
Wer sich „Easy Rider“ zum Vorbild nimmt, das weiß der Mann aus Little Rock (Arkansas) natürlich, der muß am Ende auch einen großen, schockierenden Knalleffekt liefern. Und tatsächlich läßt Nichols seinen Film schließlich doch noch abbiegen in Richtung Bandenkrieg: den zwischen den nachrückenden jungen Wilden der Hippie-Ära, die nicht nur Rauschgift, sondern auch einen mörderischen Geltungsdrang in die Kreise der Vandals hineintragen, und den von Johnny angeführten reiferen Rockern des „goldenen Zeitalters der Motorradbanden“, wie Kathy sie charakterisiert. Man darf gespannt sein, ob Johnny und Benny das Kräftemessen überleben.
Kinostart ist am 20. Juni
Foto: Kathy (Jodie Comer) und ihr Freund Benny (Austin Butler): Freiheit auf zwei Rädern