Kränze, die die russische Botschaft im Frühjahr 2022 an den Jahrestagen der Befreiung der Konzentrationslager in deutschen Gedenkstätten niederlegte, waren dort nicht mehr willkommen. Als Reaktion auf den Ukraine-Krieg wurden sie entweder entfernt oder durch das Abschneiden der Kranzschleifen unkenntlich gemacht. Diese schäbige Praxis stellte zwar eine Mißachtung einfachster zivilisatorischer Standards dar, ist aber aus der Sicht der Berliner Kulturwissenschaftlerin Insa Eschebach, die von 2005 bis 2020 die Gedenkstätte Ravensbrück leitete, ein Ausnahmefall in den eher durch geräuschlose Routine geprägten Abläufen öffentlichen Gedenkens (Universitas, 3/2024). Denn die deutsche Erinnerungskultur, bis in die 1990er vom oppositionellen Geist „produktiver Heimatkritik“ beseelt, ist heute zur Konvention staatlicher Selbstverständigung geworden. Mit ihrer Ankunft in der Mitte der Gesellschaft habe dieser kritische Impuls „etwas gelitten“. Um dieser „Petrifizierung“ entgegenzuwirken und Gedenkakte weiterhin als Prozesse der Vergemeinschaftung zu zelebrieren, haben sich neue Erinnerungsrituale etabliert wie die 100.000 seit 1992 verlegten „Stolpersteine“ des Aktionskünstlers Gerhard Demnig („das größte dezentrale Denkmal der Welt“), oder die Aktion „Jeder Mensch hat einen Namen“, eine Verlesung der Namen jener 55.696 Berliner Juden, die dem Holocaust zum Opfer fielen. Diese alternativen Gedenkformen sind für Eschebach weit entfernt von der „memorial mania“ in den USA, die immer mehr historische Orte zu Gedenkstätten erklärt, um Gemeinschaft zerstörende „Anerkennungsansprüche marginalisierter Gruppen durchzusetzen“. (dg)
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