Auf seinen Vor-Ort-Reisen durch deutsche Industrieregionen gerät Wirtschaftsminister Robert Habeck regelmäßig ins Schwärmen. Deutschland sei „einer der stärksten Standorte für Biotechnologie, Pharmazie, Life Sciences und Medizintechnik in der Welt“, ließ er sich kürzlich vernehmen. Die Branche zeichne aus, „was die deutsche Wirtschaft traditionell groß und stark gemacht hat“, nämlich „Investitionen in Forschung, Innovationsstärke und hochspezialisierte Fachkräfte.“ Zwar gebe es große Herausforderungen im globalen Wettbewerb, aber die Bundesregierung habe bereits eine „Pharmastrategie“ beschlossen, die den Standort weiter stärken werde. Alles in Butter also? Tenor soll sein: Die Ampel wird es schon richten.
Die harte Wirklichkeit sieht jedoch anders aus. Jüngst publizierte die Schweizer Hochschule IMD ihren Vergleich der Standortfaktoren von 67 Nationen. Deutschland ist zwei Plätze abgerutscht und steht nur noch auf Platz 24. Zu Beginn der Ampel-Zeit 2021 war die Bundesrepublik noch auf Platz 15. Laut einer anderen aktuellen Studie des Mannheimer Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) und der Creditreform Wirtschaftsforschung werden in Deutschland immer mehr Unternehmen geschlossen, und zwar gerade in den forschungsintensiven Branchen. Insgesamt machten im letzten Jahr 176.000 Unternehmen dicht, das waren 2,3 Prozent mehr als im Vorjahr. „Wir erleben derzeit eine Welle von Insolvenzen – aber der Scheitelpunkt ist noch nicht erreicht“, sagt der Mittelstandsberater Markus Brandstetter.
Es betraf Händler, Handwerksbetriebe oder auch die Industrie. So betrug der Zuwachs bei den Schließungen im verarbeitenden Gewerbe satte acht Prozent, in der Untergruppe der forschungsintensiven Industrie sogar 12,3 Prozent. Eine zentrale Ursache dafür sind die hohen Energiekosten in Deutschland. Öl und Gas sind zwar weltweit wieder deutlich billiger geworden, aber aufgrund zahlreicher fiskalischer Sonderlasten hierzulande nach wie vor viel teurer. Das treibt vor allem die chemische Industrie aus dem Land, neben China auch nach Indien oder Südosteuropa. Neben dem Maschinenbau eine der letzten Großindustrien, in denen Deutschland weltmarkfähig war.
Nachkommen wird hier erst mal nichts, meint auch Brandstetter. „Das einzige moderne deutsche Unternehmen ist die SAP.“ Künstliche Intelligenz mache riesige Fortschritte. Aber dafür biete Deutschland kein gutes Umfeld. Das passiere fast alles in den USA. „Vergleichen Sie die deutsche Wirtschaft mit der Bahn“, meint Brandstetter, der jetzt viele Insolvenzen zu betreuen hat. „Die fährt schon noch. Aber die ist nicht gut. Nichts ist pünktlich. Wir werden nicht Simbabwe. Aber wir werden auch nicht mehr Weltspitze sein.“
Auch im Gesundheitssektor geben immer mehr Betriebe auf, wobei hier vor allem überbordende Bürokratie, Nachwuchsmangel und fehlende Gewinne die Hauptgründe sind. Ganz finster sieht es auch in der Immobilienbranche aus, wo sowohl der Wohnungsbau (-3,4 Prozent in 2023) als auch der gewerbliche Bau (-2,9 Prozent) rückläufig sind. Kein Wunder, denn wer kann sich bei steigenden Zinsen, Baukosten und Klimaschutz-Auflagen noch ein neues Eigenheim leisten?
„Mittelstand ist niedergetrampelt von SPD und Grünen“
Besonders beunruhigend ist, daß den vielen Schließungen keineswegs entsprechende Neugründungen gegenüberstehen. Die ZEW-Auswertungen zeigen im Gegenteil einen fallenden Trend, und zwar wiederum gerade in forschungsintensiven Wirtschaftsbereichen und im verarbeitenden Gewerbe. Auch hier könnte der Gegensatz zu den von Habeck besungenen „innovativen Start-ups“ und angeblich starken Forschungsinvestitionen in der deutschen Unternehmenslandschaft nicht größer sein. So sind derzeit neben dem Bau auch die Unternehmensinvestitionen in neue Anlagen rückläufig.
Und das hat nicht nur konjunkturelle Gründe, es geht auch auf die unberechenbare Politik der Ampel zurück. Die Mittelständler – die „Hidden Champions“ – könnten Deutschland nicht schon wieder aus der Misere holen, so Brandstetter. „Der Mittelstand liegt am Boden. Niedergetrampelt von SPD und Grünen.“ Die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute schreiben in ihrem jüngsten Gemeinschaftsgutachten: „Eine durchgreifende Verbesserung der Investitionsbedingungen ist derzeit nicht in Sicht.“ Vielmehr sei „die wirtschaftspolitische Unsicherheit hoch, was für Attentismus (Anmrk. d. Red.: Abwarten auf besssere Gelegenheit) auf Seiten der Unternehmen spricht.“ Ein Beispiel dafür ist etwa die abrupte Einstellung der Subventionen für Elektroautomobile, nachdem diese zuvor entgegen den tatsächlichen Käuferwünschen gepuscht worden waren.
Auch beim Bürokratieabbau klaffen Wunsch und Wirklichkeit weit auseinander. „So viel Bürokratieabbau wie in den letzten zwei Jahren war noch nie“, lobte Bundeskanzler Scholz im Mai die Ampel-Politik. Dumm nur, wenn die Wirtschaft davon kaum etwas merkt. Die Bürokratie belaste sie nach wie vor „ohne Ende“, klagt etwa Gesamtmetall-Chef Stefan Wolf in der Welt. Datenschutz, Herkunftsnachweise, Subventionsanträge, Umwelt- und Klimaauflagen – die Formularflut ist wie eine Hydra, der immer drei Köpfe nachwachsen, wenn man einen abschlägt. An manch unsinniger Vorschrift ist zwar auch die EU schuld, aber das macht es für die Unternehmen kaum besser. Zumal die Bundesregierung der Brüssel-Regelungswut nichts entgegenstellt.
Daß all dies inzwischen verheerende Folgen hat, kann auch die regierungsnahe Presse nicht mehr übersehen. „Deutschland im Tal des Todes“, titelte etwa die Wirtschaftswoche mit Blick auf den Standort. Und selbst die „Tagesschau“ befürchtete im Zusammenhang mit den massiven Produktionsverlagerungen der BASF nach China den „Anfang vom Ende der deutschen Chemieindustrie“.
Die Auswirkungen der Deindustrialisierung sind auch längst in den nackten Zahlen sichtbar. Nach wie vor ist Deutschland mit seinem Negativwachstum 2023 und einer kaum besseren Prognose für das laufende Jahr Schlußlicht in Europa. Die Wirtschaftsleistung liegt kaum höher als vor der Pandemie, schreiben die Forschungsinstitute im Gemeinschaftsgutachten. Zwar sei die Erwerbstätigenzahl gestiegen, aber dies kompensiere im wesentlichen nur die kürzeren Arbeitszeiten. Die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden ist also in etwa gleichgeblieben, und zudem stagniere auch die Produktivität. Selbst der Außenhandel trägt derzeit nichts mehr zum Wirtschaftswachstum bei, obwohl der Welthandel weiter zunimmt.
Positive Zuwachsraten hat allein noch der Konsum, namentlich auch der Staatsverbrauch. Es wird also weiterhin getanzt auf der Titanic, finanziert nicht zuletzt durch Kredite und inflationsbedingt steigende Staatseinnahmen. Wenn es nach der Ampel ginge, soll dafür auch noch die Schuldenbremse fallen. Daß der Maschinenraum schon halb unter Wasser steht, ficht die Freizeitkapitäne und Gesundbeter auf den Regierungsbänken offenbar nicht an. Vielleicht glauben sie auch weiter an das „neue Wirtschaftswunder“, das der nach eigenen Worten „wirtschaftsfreundlichste Bundeskanzler seit Ewigkeiten“ Olaf Scholz im März letzten Jahres versprochen hatte.
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