Als die SPD bei der Europawahl vor fünf Jahren mit 15,8 Prozent das schlechteste Ergebnis bei einer bundesweiten Wahl seit Gründung der Bundesrepublik einfuhr, trat die damalige SPD-Vorsitzende Andrea Nahles wenig später unter dem Druck der Parteiführung zurück. 2024 stellt die SPD mit Olaf Scholz den Kanzler, aber bei der Europawahl ging es weiter bergab auf nur noch 13,9 Prozent. Und wieder stehen die Genossen vor der Frage, ob sie ihre Spitzenfigur austauschen sollen. Im Berliner Regierungsviertel wird zwar in allen Cafés von Neuwahlen und der Vertrauensfrage des Kanzlers getuschelt, aber noch quält sich Scholz mit seinem typischen Dauergrinsen und einem in eine große Leere gehenden Blick von Termin zu Termin.
Die Europawahl von 2024 hat die Gewichte in der Ampel-Koalition dramatisch verschoben. Nach einem Absturz von 20,5 auf 11,9 Prozent wurden die Grünen von der Realität eingeholt und schrumpften von der angeblichen Volks- zur Großstadtpartei. In der SPD, auf deren Fraktion und ihren Vorsitzenden Rolf Mützenich sich Scholz seit der Bundestagswahl stets verlassen konnte, rumort es heftig. Abgeordnete rechnen das Europawahlergebnis auf den Bundestag um, der ohnehin 2025 verkleinert werden wird.
Das Ergebnis sorgt für Entsetzen: Bei 15 Prozent Stimmen für die SPD würde sie im neuen Bundestag (630 Sitze) gerade noch 95 Mandate erhalten. Derzeit zählt die SPD-Fraktion 207 Mitglieder. Das heißt: Über die Hälfte der Genossen würden ihre Diäten verlieren und müßten einer Arbeit nachgehen. Selbst wenn die SPD 20 Prozent holen würde, würden rund 80 Abgeordnete ihre Mandate verlieren. Einzig die FDP mit ihrem Vorsitzenden Christian Lindner glaubt, dem Ampel-Abgang entkommen zu sein. Über fünf Prozent bei der Europawahl wirken auf Lindner wie ein Aufputschmittel und erhöhen seinen Widerstand gegen rot-grüne Schuldenplanungen und Ausgabenwünsche massiv. Ein erstes Haushaltsgespräch mit Scholz und dem grünen Wirtschaftsminister Robert Habeck verlief im Sande. Im Haushalt des nächsten Jahres dürfte ein Loch von rund 40 Milliarden Euro klaffen, zuletzt noch gewachsen durch die Steuerschätzung mit miserablen Daten.
Für SPD und Grüne wäre das Loch leicht zu schließen: Steuererhöhungen für Reiche und Lockerung der Schuldenbremse zum Beispiel durch Erklären einer Notlage: „Welche größere Notlage sollte es geben als diesen Krieg in Europa?“, fragt etwa Außenministerin Annalena Baerbock. Andere Koalitionspolitiker bleiben im Inland und wollen die Notlage wegen der zahlreichen Hochwasser und der Kosten für die Schadenbeseitigung ausrufen lassen.
Lindner und die FDP halten dagegen. Der Verzicht auf Steuererhöhungen und das Festhalten an der Schuldenbremse seien gesetzt, argumentiert Lindner mit Verweis auf den Koalitionsvertrag. Er hat den Ministerien drastische Sparvorschläge vorgelegt: So soll sogar Lindners Parteifreund Volker Wissing in seinem Verkehrsministerium ausgerechnet bei Investitionen für Bundesfernstraßen Einschnitte in Milliardenhöhe hinnehmen. Dabei sind rund 4.000 Straßenbrücken in einem kritischen Zustand. Lindner will darüber hinaus einen weitgehenden Verzicht auf die Kindergrundsicherung, ein Lieblingsprojekt der Grünen, die dafür eine neue Behörde mit 5.000 Mitarbeitern schaffen wollen.
„Kämpfen für die Koalition, aber nicht um jeden Preis“
Sturm laufen die Liberalen auch gegen das Bürgergeld, dessen letzte starke Erhöhung sie am liebsten zurücknehmen würden. Außerdem soll der Kreis der Empfänger einschränkt werden, während die SPD bisher nur zu kleinen Abstrichen von ihrem Lieblingsprojekt bereit ist. So sollen etwa Bürgergeld-Empfänger, die bei Schwarzarbeit erwischt werden, ihren Anspruch verlieren. Zuletzt brachte Lindner Sozialdemokraten und Grüne noch auf die Palme, indem er Steuererleichterungen für die nächsten drei Jahre in einem Umfang von 23 Milliarden Euro ankündigte, um das Steuersystem an die Inflation anzupassen. Was für Lindner ein „Gebot der Fairneß“ ist, treibt Sozialdemokraten zur Weißglut: „Wir kämpfen um diese Koalition, aber nicht um jeden Preis“, so der Bundestagsabgeordnete Tim Klüssendorf.
Doch ein Koalitionsbruch gilt derzeit als ausgeschlossen. Lösungsmöglichkeiten im Haushaltsstreit zeichnen sich ab: So könnte für 2024 ein Nachtragshaushalt eingebracht werden. Die Union vermutet, daß damit schon Belastungen für 2025 geschultert werden könnten. Die Mehrausgaben für Verteidigung, die Kosten für die Ukraine-Hilfen und die Stationierungskosten für die Bundeswehr-Brigade in Litauen könnten in ein „Sondervermögen“ ausgelagert werden. Das wäre zwar auch schuldenfinanziert, aber wird nicht auf die Schuldenbremse angerechnet.
Es bleibt das Problem Scholz. Aber daß die Sozialdemokraten den Kanzler in Kürze durch Verteidigungsminister Boris Pistorius, den letzten Hoffnungsträger der SPD, auswechseln könnten, ist unwahrscheinlich. Bei den anstehenden Landtagswahlen im Osten ist für die SPD ohnehin kein Blumentopf mehr zu gewinnen, egal ob der Kanzler Scholz oder Pistorius heißt. Wenn ein Wechsel stattfinden sollte, dann erst im kommenden Jahr.