© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 25/24 / 14. Juni 2024

Alles für die grüne Klimabilanz
Fraunhofer-Institut erklärt das Fahrrad zum neuen Goldstandard für die alltägliche Mobilität
Paul Leonhard

Rote Streifen auf dem grauen Asphalt haben das Faß zum Überlaufen gebracht. In Dresden kochte der Volkszorn. Es gab Proteste, Unterschriftensammlungen, sogar eine Morddrohung gegen den Verantwortlichen. Schließlich sah sich der woke FDP-Oberbürgermeister Dirk Hilbert – angesichts von „Hysterie und Polemik“, aber auch zunehmender Beschwerden von Firmen, Pflegediensten und der Uniklinik – veranlaßt, das Verkehrsexperiment kurz nach seinem Start zu beenden. Dabei liegt sein grüner Verkehrsbürgermeister Stephan Kühn im Trend. Um rasenden Fahrradfahrern ein besseres Durchkommen zu garantieren, hatte er für die Elbbrücke „Blaues Wunder“ Radwege verordnet.

Die Folge waren kilometerlange Staus: für den „bösen“ Autoverkehr und den „grünen“ ÖPNV. Selbst Krankenwagen und Feuerwehr kamen nicht mehr durch. Mit Visionen von Klimaneutralität läßt sich am Dresdner Elbufer kein Blumentopf gewinnen. Wer wissen will, was die Bürger vom Slogan „Öfter mal das Rad nehmen“ halten, sollte sich die Klagen der schwächsten Verkehrsteilnehmer – Rentner mit Rollatoren und Gehstöcken, Familien mit Kleinkindern – anhören. Die meisten von ihnen dürften statistisch trotzdem als Radfahrer erfaßt sein, weil in ihrem Keller noch ein vergessener Drahtesel mit luftleeren Schläuchen steht.

Flexible Bewältigung von Wegeketten im Alltag?

Das ist auch ein Grund, warum der Fahrradbestand wächst und wächst. Voriges Jahr registrierten die Wiesbadener Statistiker 84 Millionen Drahtesel, so viel wie noch nie, also fast einen pro Einwohner. An der Spitze des Absatzes stehen dabei E-Bikes (Standardgeschwindigkeit etwa 6 km/h) und Pedelecs (bis 25 km/h), deren Verkaufszahlen 2023 die Zahl der länger haltbaren Fahrräder ohne Elektromotor überstieg. Erstere sind teurer, schneller und bequemer, aber nicht nur wegen der höheren Unfallgefahr der Gesundheit nicht so zuträglich. Die Greta-Gläubigen interessiert das nicht, auch die Brandgefahr der Billigakkus wird von ihnen heruntergeredet (JF 52/23).

Denn nach einer Auftragsstudie des Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung (ISI) könnte der Zwangsumstieg aufs Rad die deutsche „Klimabilanz“ (1,8 Prozent der globalen Emissionen) spürbar verbessern. Die Voraussetzung ist, daß bis 2035 im Nahbereich (bis 30 Kilometer) der Anteil des Radverkehrs von aktuell 13 auf 45 Prozent gesteigert wird. Das würde nach Berechnungen der Karslruher ISI-„Forschenden“ den Treibhausgasausstoß um 19 Millionen Tonnen CO₂-Äquivalente senken. Auf 79 Seiten wird im Auftrag des 1979 gegründeten Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) das Leitbild „Fahrradland Deutschland 2035“ in den schönsten ausgemalt.

Ergebnisoffen ist die ISI-Studie nicht. Sie schreibt den 2002 von allen damaligen Bundestagsfraktionen beschlossenen Nationalen Radverkehrsplan (NRVP) fort. 2019 wurde der NRVP 3.0 abgenickt – mit zusätzlichen „regionaltypischen“ Maßnahmen zur Verkehrswende. Die sieht den unaufhaltsamen Umbau der Bundesrepublik zum „fahrradgerechten Land“ vor – egal ob im flachen Norden oder in den Berg-Tal-Regionen, wo ein kräftiges E-Fahrrad, sehr zur Freude der asiatischen Billghersteller, unabdingbar ist.

„Potentiale des Radverkehrs für den Klimaschutz und für lebenswerte Städte und Regionen“ ist die ISI-Studie daher auch überschrieben: „Idealtypische Städte und Regionen sollen dabei die Bedingungen des ‘Fahrradlandes Deutschland’ in bezug auf lückenlose, attraktive und sichere Infrastrukturen und eine gute Vernetzung mit dem öffentlichen Personenverkehr zur flexiblen Bewältigung von Wegeketten im Alltag erfüllen.“ Dazu wird untersucht, wie E-Bikes/Pedelecs, digitale Dienste, fahrradgerechte Stadtkonzepte und weitere Maßnahmen möglichst schnell und flächendeckend umgesetzt werden können.

„Klassische Verkehrsmodelle erklären die Entscheidung (Verkehrsmittelwahl) für ein Verkehrsmittel in der Regel mit Zugangs-, Abgangs-, Warte- und Fahrzeiten, Kosten sowie Umstiegen entlang einer Route und mit der Verfügbarkeit von Mobilitätswerkzeugen wie Pkw, Fahrräder oder ÖPNV-Dauerkarten“, schreiben die ISI-Autoren. Subjektive Größen wie die „gefühlte Sicherheit, Streß oder Komfort“ und die „Schönheit einer Strecke im Kalkül der Menschen“ würden dort nicht beachtet. Sie könnten den Anstieg des Radverkehrs sowohl auf kommunaler als auch auf nationaler Ebene oft nicht erklären.

Die Mittel- und Langfristprognosen des Verkehrs- und Wirtschaftsministeriums bescheinigten dem Radverkehr hingegen selbst in „nachhaltigkeitsorientierten Szenarien“ nur einen minimalen Zuwachs. Derartige Studien würden die „Pull-Faktoren“, also die direkten politischen Eingriffe im Sinne des ADFC, übersehen. „Typische Push-Faktoren um die Pkw-Nutzung weniger attraktiv zu machen“ seien Steuern, Abgaben oder Parkgebühren und Regulierungen wie Tempolimits, Einfahrtbeschränkungen oder ein reduziertes Parkplatzangebot. Aktuelles Beispiel ist das „grüne“ Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG 3 C 5.23), wonach das teilweise unvermeidliche Gehwegparken radikal eingeschränkt werden darf.

Sprich: Immer mehr willkürliche Schikanen könnten Verkehrsteilnehmer zwingen, aus dem motorisierten Individualverkehr (MIV) aus- und aufs Rad umzusteigen. Gelinge es zudem, die Radinfrastruktur mit Steuermitteln auszubauen, gäbe es ein Potential von zehn bis 30 Prozent der Bürger, die sich „neu für das Fahrrad begeistern“ ließen. Der Bau von separaten Radwegen reiche nicht – diese müßten in eine „breite Fahrradkultur und -politik“ eingebettet werden. Auch „Genderfragen“ werden angesprochen: In den Niederlanden sei das Verhältnis zwischen den Geschlechtern beim Radfahren gleich, in Ländern ohne traditionelle „Radkultur“ liege es bei 3:1 zugunsten der Männer. Allerdings nutzten Frauen das Rad seltener für den Weg zur Arbeit als Männer, dafür häufiger zur Erledigung von Alltagswegen.

Tägliche Fahrradwegstrecke von vier auf 4,6 Kilometer gestiegen

Im globalen Ranking der Fahrradstädte führe Utrecht vor Münster, Antwerpen, Kopenhagen, Amsterdam, Malmö, Hangzhou und Bern. National liege Oldenburg vor Münster, Freiburg, Bamberg, Göttingen, Heidelberg, Karlsruhe, Braunschweig, Konstanz, Bremen und Hannover. Das ist in zweierlei Hinsicht interessant: Erstens werden Infrastruktur, Anteil der Fahrradnutzung, Kriminalität, Sicherheit, Wetter und Radverleih unterschiedlich bewertet – und zweitens ist keine osteuropäische oder mitteldeutsche Stadt unter den Vorbildern zu finden, obwohl dort bis 1990 Fahrradfahren – mangels Privatautos – sehr verbreitet war.

Frankfurt am Main wird als Meister der Restriktionen abgefeiert: Durch Diagonalsperren, Parkplatzvernichtung und Innenstadt-Tempo 20 werde eine „konsequente Flächenumverteilung zugunsten des Fuß- und Radverkehrs“ erzwungen – und das sollte deutschlandweit so sein. Aber auch ohne Brachialmaßnahmen sei die Wegstrecke, die durchschnittlich mit dem Fahrrad zurückgelegt wird, gewachsen: von vier (2017) auf 4,6 Kilometer (2023). Das reicht Frank Masurat, 64jähriger Berliner Informatiker und seit 2023 ADFC-Chef, allerdings nicht: „Wenn es Deutschland mit den Klimazielen und hoher Lebensqualität ernst meint, muß das Fahrrad der neue Goldstandard für die alltägliche Mobilität sein – und mit neuem politischen Elan gefördert werden.“ Der ADFC mit seinen über 230.000 Mitgliedern ist dafür nur eine von vielen „Pressure-Groups“.


Studie „Potentiale des Radverkehrs für den Klimaschutz und für lebenswerte Städte und Regionen“: isi.fraunhofer.de/content/dam/isi/dokumente/ccn/2024/2024-05_adfc_radverkehr_potenzial_abschaetzung_studie_langfassung.pdf