Es war das erklärte Ziel der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt und Walter Scheel, mit einer neuen Ost- und Deutschlandpolitik die innerdeutsche Grenze durchlässiger zu machen. Die Voraussetzungen dafür schufen der Abschluß des Verkehrsvertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR im Mai 1972, der Bundesbürgern die „mehrmalige Einreise in die DDR zu Verwandtenbesuchen, aber auch zu kommerziellen, sportlichen, kulturellen, religiösen oder touristischen Zwecken“ ermöglichte. Es folgte Ende des Jahres die Unterzeichnung des Grundlagenvertrages, dem mit seiner Vielzahl von Protokollen und Erklärungen zu Fragen der Familienzusammenführung, den zugesagten Reiseerleichterungen, zum Grenzverkehr und zu den Arbeitsbedingungen bundesdeutscher Journalisten in der DDR eine Schlüsselstellung zukam. So sollte auf dieser Grundlage ein umfassender Austausch, auch in wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht, zwischen den beiden deutschen Staaten ermöglicht werden.
Infolge der gelockerten Reisegesetze konnte ein massiver Anstieg der Besucherzahlen zwischen den beiden deutschen Staaten verzeichnet werden, aber überwiegend nur in eine Richtung. Die auf Grundlage der Verträge eingeleitete neue Entwicklung gab der DDR-Führung Anlaß zur Sorge vor wachsender Instabilität im Innern. Zugleich erfuhr das System der Überwachung, Kontrolle und Abgrenzung seinen Ausbau. So ließ die SED-Führung mitten in der Phase deutsch-deutscher Entspannungspolitik seit 1972 systematisch an „besonders gefährdeten Abschnitten“ der DDR-Grenze rund 16.000 Selbstschußanlagen vom Typ SM-70 auf einer Länge von etwa 450 Kilometern installieren. Die SM-70-Konstruktionen mit todbringender Wirkung befanden sich in drei unterschiedlichen Höhen in einem Abstand von jeweils zehn Metern.
DDR wollte die Existenz der Selbstschußanlagen geheimhalten
Die DDR-Führung war sich durchaus der Konsequenzen bewußt, die ein Bekanntwerden der berüchtigten Splitterminen (SM-70-Minen) im Westen für ihre Pläne zum Ausbau der wirtschaftlichen Kontakte mit der Bundesrepublik haben konnte. Schließlich liefen damals gerade die Verhandlungen über die KSZE-Schlußakte in Helsinki. Sie setzte daher auf eine strikte Geheimhaltungsstrategie bei den Selbstschußanlagen. Es war das Verdienst Michael Gartenschlägers (1944–1976) und seiner riskanten Aktivitäten gegen den Einsatz von Splitterminen an der DDR-Grenze West, daß der Westen von der Existenz dieser „Todesautomaten“ erfuhr. Gartenschläger war entschlossen, die DDR-Führung der Menschenrechtsverletzungen zu überführen, der sie sich nach seiner Überzeugung mit der Installierung von Splitterminen an der Grenze schuldig gemacht hatte. Denn die in ihrer perfiden Wirkungsweise tödlichen Minenvariante stand in eklatantem Widerspruch zur Verpflichtung der SED-Führung, sich im Zuge ihrer Anerkennung auf internationaler Ebene und der DDR-Mitgliedschaft in der Uno auch an internationale Konventionen wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 zu halten.
Der aus Strausberg bei Berlin stammende Gartenschläger war als Jugendlicher in einem Schauprozeß vor dem Bezirksgericht Frankfurt (Oder) kurz nach dem Bau der Berliner Mauer wegen „staatsgefährdender Gewaltakte“ und „staatsfeindlicher Hetze“ zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Die Bundesrepublik kaufte ihn als politischen Häftling aus der DDR schließlich 1971 frei, was nicht zuletzt auch durch die neue Ost- und Deutschlandpolitik der sozialliberalen Koaltionsregierung von Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) möglich wurde. Gartenschläger machte sich selbstständig und betrieb in Hamburg in den 1970er Jahren eine Tankstelle. Zudem betätigte sich der ehemalige Regimegegner als Fluchthelfer und verhalf mehr als dreißig DDR-Bürgern auf zum Teil abenteuerlichen Wegen zur Flucht in den Westen.
Zu neuen Aktivitäten, die sich gegen das Grenzanlagensystem richteten, veranlaßte ihn ein im Okober 1975 erschienener Artikel im Nachrichtenmagazin Spiegel. Darin wurde die Existenz sogenannter Todesautomaten vom Typ SM-70 thematisiert, über deren Funktionsweise in der Bundesrepublik aber bisher nichts bekannt war. Im März 1976 gelang Gartenschläger mit einem riskanten Coup der Abbau einer SM-70-Konstruktion, die er dann öffentlichkeitswirksam im Spiegel-Interview präsentierte. Die Öffentlichkeit erfuhr auf diese Weise erstmals von der Funktionsweise dieser Teufelsapparate: Die mit Spanndrähten verbundenen Selbstschußanlagen lösten bei Berührung eine Explosion aus und setzten mehr als 100 scharfkantige Metallsplitter frei. Für die SED-Führung wurde Gartenschläger mit seinem Engagement gegen die Splitterminen zum Staatsfeind Nummer eins; und Mielkes Ministerium für Staatssicherheit setzte bald darauf ihr IM-und Agentennetz in Bewegung. Ein ehemaliger Schulfreund, Gerd-Peter Riedinger, der wie Gartenschläger zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt worden war und nach Freikauf durch die Bundesrepublik sich ebenfalls in Hamburg aufhielt, lieferte der Stasi schließlich wichtige Informationen. Riedinger wurde bei der Einreise zum Osterbesuch seiner Mutter im Frühjahr 1976 am Grenzübergang festgesetzt und verhört.
Einen weiteren erfolgreichen SM-70-Diebstahl führte Gartenschläger dann am 23. April 1976 durch. Er deponierte das Gerät zunächst auf dem Grundstück des von ihm gemieteten Hauses in Willinghusen bei Hamburg, plante aber, diese Konstruktion dem West-Berliner Grenzmuseum Checkpoint Charlie zu übergeben. Die aufsehenerregenden Demontagen Gartenschlägers an der DDR-Grenze veranlaßten die Stasi, einen detaillierten Maßnahmenplan zu entwickeln. Nachdem Gartenschläger mit Hilfe seines Freundes Lothar Lienicke ein zweites Gerät auf der westlichen Seite der DDR-Grenze im Kreis Lauenburg entfernt hatte, reagierte die Stasi sodann mit der Bildung einer Sonderarbeitsgruppe. Das Protokoll der Ergebnisse verfaßte Oberstleutnant Tyra, der später für den Einsatz gegen Gartenschläger verantwortlich war. Der für die letzte Aprilwoche ab dem 25. April vorgesehene Maßnahmenplan wurde von dem Führer der Schulzendorfer Einsatzkompanie, Wolfgang Singer, am 26. April noch einmal konkretisiert und dann unverzüglich umgesetzt. Demnach wurden die in Frage kommenden Grenzabschnitte „freundwärts“ und „feindwärts“ von jeweils zwei Postenpaaren eines Sondereinsatzkommandos des MfS überwacht. Die regulären Grenztruppen mußten sich in der betreffenden Zeit zurückziehen; die MfS-Spezialkräfte hatten sich ihrerseits konspirativ zu tarnen und Uniformen der regulären Grenztruppen zu tragen. Als sich Gartenschläger beim dritten Grenzgang am 1. Mai 1976 in Begleitung seiner Freunde Lothar Lienicke und Wolf-Dieter Uebe zum Grenzknick zwischen Bröthen im Westen und Leisterförde im Osten begab, entschied er sich schließlich entgegen der Absprache spontan, doch eine Splittermine zu zünden anstatt nur die eine Woche zuvor zurückgelassene Leiter für die zweite SM-70-Demontage zu holen. Er geriet dabei in den tödlichen Hinterhalt eines vierköpfigen Sonderkommandos des MfS, das sich dort seit knapp einer Woche positioniert hatte und ihn erschoß.
1999 sprach ein Gericht die Auftragsmörder der Stasi frei
Im Unterschied zu regulären Einsatzkräften an der Grenze, die nur mit zeitlicher Verzögerung auf sogenannte Grenzverletzer reagieren konnten, war die Kommandotruppe des MfS auf einen erneuten Demontageversuch Gartenschlägers vorbereitet und wurde gemäß des detailliert erstellten Maßnahmenplans nicht überrascht. Gartenschlägers Begleiter Lienicke und Uebe, die nach Wahrnehmung von Schüssen und Mündungsfeuer zunächst die Flucht ergriffen hatten und erst in Begleitung von Beamten des Bundesgrenzschutzes (BGS) zurückkehrten, konnten bezeugen, wie generalstabsmäßig das Stasi-Sondereinsatzkommando gegen ihren Freund vorging: Utensilien wie Decken, eine Autobatterie und ein Handscheinwerfer wurden durch ein Loch in dem ansonsten undurchdringlichen Grenzzaun von Grenzsoldaten zurück in den Osten geschafft. Wie BGS-Beamte später feststellten, war dies möglich durch eine gelockerte Platte im Metallgitterzaun, die Angehörige der DDR-Pioniere wieder verschraubten.
Der Tod Michael Gartenschlägers bei Leisterförde hatte zur Folge, daß die Bundesregierung unter Kanzler Helmut Schmidt den politischen Druck auf die DDR-Führung erhöhte und den Abbau der SM-70-Selbstschußanlagen einforderte. Aber erst unter der von Bundeskanzler Helmut Kohl geführten Koalition konnte mit einem vom bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß (CSU) vermittelten Milliardenkredit der Abbau der SM 70-Selbstschußanlagen erreicht werden. Die letzten SM 70-Splitterminen wurden schließlich Ende November 1984 an der innerdeutschen Grenze demontiert.
Erst 1999, fast zehn Jahre nach der Wiedervereinigung, wurde der Strafprozeß gegen drei mutmaßliche Schützen des vierköpfigen Sondereinsatzkommandos gegen Gartenschläger vor dem Schweriner Landesgericht eröffnet. So stand die Dritte Strafkammer des Landgerichts vor der schwierigen Aufgabe, vor dem Hintergrund besonderer zeitgeschichtlicher Umstände einen speziellen Fall staatlicherseits verübten DDR-Unrechts mit dem Verdacht eines angeordneten Mordes juristisch aufzuarbeiten. In einem über vier Monate andauernden Prozeß wurden die Angeklagten, die entgegen ihres niedrigen Dienstgrades mit hohen Orden ausgezeichnet worden waren, freigesprochen, da der im Raum stehende Vorwurf eines staatlichen Auftragsmordes den mutmaßlichen Schützen trotz vieler Widersprüche und offensichtlicher Ungereimtheiten nicht nachgewiesen werden konnte. So kam das Gericht in seinem Urteil zum Schluß, daß die Männer des Stasi-Sondereinsatzkommandos aus „Notwehr“ gehandelt hätten und es keine ausreichenden Beweise für die vorsätzlich geplante Liquidation eines Regimegegners geben würde. Dem Gericht ging es auch darum, angesichts noch bestehender Zweifel an der Schuld der Angeklagten und der schwierigen Aktenlage, den Eindruck einer Siegerjustiz zu vermeiden.
Foto: Michael Gartenschläger am innerdeutschen Todesstreifen 1976: Sein Engagement gegen die Selbstschußanlagen machte ihn zum Staatsfeind Nummer eins der DDR-Staatssicherheit
Erinnerung an Michael Gartenschläger
Das im Jahr 1999 als Erinnerungs- und Begegnungsstätte eröffnete Museum „Grenzhus“ in Schlagsdorf nördlich der schleswig-holsteinischen Stadt Ratzeburg in unmittelbarer Nähe zur ehemaligen Todesgrenze dokumentiert in seiner Dauerausstellung das tragische Schicksal des ehemaligen DDR-Häftlings, Regimekritikers und Fluchthelfers Michael Gartenschläger (1944–1976) im Kontext deutsch-deutscher Beziehungen der 1970er und frühen 1980er Jahre. Auch hält die Gedenkstätte Gartenschläger-Eck bei Bröthen nordöstlich des schleswig-holsteinischen Büchen mit Gedenkstein, einem großen Holzkreuz und mehreren Infotafeln die Erinnerung den an der innerdeutschen Grenze erschossenen Regimegegner wach, dem ein Sondereinsatzkommando der Stasi auflauerte, um ihn „festzunehmen oder zu vernichten“, wie es in deren Dienstanweisung hieß. (mh)
www.grenzhus.de