© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 25/24 / 14. Juni 2024

Wie steht es um den deutschen Fußball?
In Torgewittern
Werner Harasym

Man muß kein Prophet sein, um für die Euro 2024 vorherzusagen: Die einzigartige Atmosphäre der WM 2006, diese so eindrucksvolle schwarzrotgoldene Ekstase, wird sich in dieser Form nicht wiederholen. Weil sich unser Land in den letzten 18 Jahren verändert hat. Weil sich die politisch-medialen Eliten nicht noch einmal von patriotischen Gefühlsausbrüchen überrumpeln lassen und stattdessen Vielfalt und Regenbogen in den Mittelpunkt stellen werden. Aber auch deshalb, weil sich eine EM ganz grundsätzlich nicht mit einer WM vergleichen läßt. Allerdings ist durchaus davon auszugehen, daß die Stimmung im Lande sehr gut sein wird, wenn die Mannschaft von Trainer Julian Nagelsmann ordentlich ins Turnier hineinfindet. Denn eines ist klar: Die Fußballbegeisterung in Deutschland ist riesig. Das Kulturgut Fußball hat gegenwärtig einen Beliebtheitsgrad erreicht, welchen es in diesem Ausmaß in unserem Land wohl noch nie hatte.

Das zeigt sich zum Beispiel an den extrem hohen Zuschauerzahlen im Vereinsfußball. In der abgelaufenen Saison 2023/24 verzeichneten Borussia Dortmund (81.300 Zuschauer) und Bayern München (75.000) den höchsten Zuschauerschnitt in Europa. Zweitligist Schalke 04 (61.500) hätte in Spanien Rang zwei belegt und verbuchte einen ähnlichen Schnitt wie der Zweitplazierte in der englischen Premier League. Selbst Regionalligist Alemannia Aachen wäre mit knapp 20.000 Besuchern pro Spiel in der spanischen La Liga im Mittelfeld gelandet.

Daß diese aktuelle Fußballbegeisterung in Deutschland keineswegs eine Selbstverständlichkeit ist, wird deutlich, wenn man die genannten Zuschauerzahlen in Beziehung zum Spieljahr 1990/91 setzt. Das ist immerhin die Saison, die der zauberhaften Weltmeisterschaft 1990 in Italien und dem hochverdienten deutschen WM-Titel, errungen unter Kaiser Franz Beckenbauer, folgte. Bayern München als Erster begrüßte damals 35.000 Anhänger pro Spiel, Borussia Dortmund als Zweiter 33.500. Zehn Bundesligisten verfehlten einen Schnitt von 20.000, darunter der 1. FC Köln, obwohl dieser bis zum letzten Spieltag um den Einzug in den Europapokal kämpfte.

In der soeben zu Ende gegangenen Saison stieg Köln als Vorletzter ab – mit einem Schnitt von 49.800 Zuschauern, was eine Stadionauslastung von 100 Prozent bedeutet! Selbst beim VfL Bochum war es in der Saison 2023/24 praktisch unmöglich, eine Eintrittskarte für ein Heimspiel zu ergattern, ohne Vereinsmitglied oder Inhaber einer Dauerkarte zu sein. Beim FC Bayern München ist die Allianz Arena seit Januar 2007 bei jedem Bundesligaspiel ausverkauft.

Diese im internationalen Vergleich einzigartigen Zuschauerzahlen korrelieren mit riesigen Fanmärschen. Einen solchen organisierten die Fans von Eintracht Frankfurt im April 2022 im Rahmen des Viertelfinalauswärtsspiels in der Europa League gegen den FC Barcelona. 30.000 Anhänger der Hessen nahmen an diesem stimmungsgewaltigen Spaziergang zum Camp Nou teil. Durchaus respektabel auch ein 10.000 Menschen umfassender Marsch von Werder-Bremen-Sympathisanten im April 2023 beim Bundesliga-Auswärtsduell mit Hertha BSC in Berlin.

Wenn man Fußballbegeisterung thematisiert, kommt man zudem an Dynamo Dresden nicht vorbei. Anläßlich der Feierlichkeiten zum 70jährigen Bestehen trug der Klub im Juli 2023 ein Freundschaftsspiel bei Slavia Prag aus. Rund 5.000 Dresdner Fußballfreunde beteiligten sich dort an einem Fanmarsch. Wohlgemerkt, Dynamo Dresden spielt gegenwärtig in der Dritten Liga! Für Aufsehen sorgte zudem eine Choreographie der Dynamos im Februar 2024 im Heimspiel gegen RW Essen mit einem überdimensionierten – den K-Block ausfüllenden – Ritter samt Schwert und Schild sowie dem Schriftzug „Der Wächter Dunkeldeutschlands“.

Dem Rekordzuschauerzuspruch und der Kreativität der aktiven deutschen Fußballszene entspricht ein vielfältiges Liedgut, das in sehr vielen Fankurven Woche für Woche vorgetragen wird. Teilweise werden mit Inbrunst auch kompliziertere Texte dargeboten. Beispielhaft sei auf den Dresdner Gassenhauer „Ich hatte einen Traum“ – nämlich ein Europapokalauswärtsspiel in Amsterdam – oder das vierstrophige Kultlied „Opa Luscheskowski“ verwiesen, das bei RW Essen für große Euphorie sorgt. Im Mittelpunkt des Liedes steht eine Symbolfigur, die seit dem Gründungsjahr 1907 bis auf eine krankheitsbedingte Abwesenheit jedes Spiel verfolgte und 1955 den Essener Meistertitel so exzessiv feierte, daß ihn seine Frau auf den Buckel nehmen mußte, um ihn nach Hause zu tragen.

Es gibt eine erstaunliche Bandbreite an Liedern über RW Essen, die nach wie vor sehr lebendig sind. Das ist deshalb erstaunlich, weil RWE von 2008 bis 2022 in der Regionalliga herumkrebste (ein Jahr davon sogar in der fünftklassigen Oberliga) und erst seit zwei Jahren wenigstens wieder in der Dritten Liga beheimatet ist. Wie lebendig diese Bandbreite an Liedern ist, unterstrich das RWE-Fanfest am 22. März 2024 in der Zeche Carl, in der eine Reihe an Künstlern, (ihre) RWE-Lieder zum besten gaben. Sind wir wirklich ein Volk ohne Lieder geworden? In bezug auf Volksweisen mag dieser Vorwurf zutreffen. Jedoch: Die Fußballkultur mit ihrem kreativen Gesang erfüllt offenkundig eine kompensatorische Funktion.

Wer zu Heimspielen von RW Essen an die legendäre Hafenstraße geht, der spürt den Geist, den dieser arg gebeutelte Traditionsverein noch immer ausstrahlt. Auch aufgrund der Informationstafeln, denen man auf dem Weg zum Stadion begegnet, zum DFB-Pokalsieg 1953, zum Meistertitel 1955 und zur zweimonatigen Südamerika-Reise 1954 – zur damaligen Zeit ein absolutes Novum. Welchen sportlichen Stellenwert RW Essen in den fünfziger Jahren einnahm, wird ersichtlich, wenn man zur Kenntnis nimmt, was die größte Zeitung Argentiniens nach dem 3:1-Sieg von RWE gegen Independiente Buenos Aires, damals eine Spitzenmannschaft, über die Essener schrieb: „Die beste Elf der Welt! So eine Mannschaft haben wir hier noch nie gesehen.“

Wenige Wochen später erzielte RWE-Stürmer Helmut Rahn die Treffer zum 2:2 und 3:2 gegen Ungarn im WM-Finale und sorgte damit maßgeblich für das Wunder von Bern. Rahn wurde vor der Heimtribüne mit einer Statue ein Denkmal gesetzt. Die große Geschichte wird an der Hafenstraße eifrig gepflegt. 

Eine echte Perle der Fußballkultur ist das „Kickers-Fan-Museum Offenbach“, eine privat geführte Einrichtung „Von Fans – Für Fans“, wie es in dem Faltblatt des Museums heißt. Ohne Zuschüsse von Verein oder Stadt wird mit viel Herzblut ehrenamtlich gearbeitet, gesammelt und ausgestellt, um von der Geschichte eines traditionsreichen Fußballvereins zu künden. Gezeigt werden unter anderem Originaltrikots aus den bedeutendsten Spielen des OFC wie beispielsweise das Finale um die deutsche Meisterschaft 1959 gegen Eintracht Frankfurt oder dem Endspielsieg im DFB-Pokal 1970.

Ferner der Entstehungswimpel der Kickers, Pokale, Fanartikel und zahlreiche Zeitungsartikel sowie Video- und Bildmaterial. Der Eintritt in dem Gebäude an der Aschaffenburger Straße 65 unweit der Spielstätte am Bieberer Berg ist frei, für einen Jahresbeitrag von 19,01 Euro – in Anspielung der Vereinsgründung von Kickers Offenbach im Jahre 1901 – kann eine Patenschaft erworben werden. Rund 50.000 Euro jährliche Fixkosten können über einen sehr breiten Unterstützerkreis aufgefangen werden.

Der Hof des Museums ist vor den Heimspielen ein beliebter Treffpunkt der Kickers-Anhänger. Seit 2013 gehören die Offenbacher nun schon der viertklassigen Regionalliga an. Und dennoch verfügt der zweimalige deutsche Vizemeister weiterhin über eine treue Anhängerschaft. Obwohl sich in der Saison 2023/24 früh zeigte, daß der OFC erneut kein Wort um den Aufstieg in die Dritte Liga mitreden würde und das Spieljahr letztlich auf einem enttäuschenden elften Rang abschloß, betrug der Zuschauerschnitt 6.100 Besucher pro Heimspiel.

RW Essen und Kickers Offenbach haben einige Gemeinsamkeiten. Beide Vereine hatten ihre beste Zeit in den fünfziger Jahren; beide Vereine waren dennoch 1963 keine Gründungsmitglieder der Bundesliga; beide Vereine haben viele empfindliche Rückschläge einstecken müssen – und trotzdem sind beide Klubs immer Kultvereine mit einer großen Schar an Anhängern geblieben.

Und noch etwas verbindet Essen und Offenbach: Obwohl in beiden Städten sehr viele Zuwanderer leben, spiegelt sich das in den jeweiligen Kurven in keiner Weise wider. Dort sind überwiegend Menschen der autochthonen Bevölkerung anzutreffen, die am Spieltag reichlich Bier trinken. Die außerhalb des Zentrums liegenden Stadien und die inzwischen gänzlich kneipenfreien Fußgängerzonen in den jeweiligen Innenstädten verhalten sich wie zwei fremde Welten, die nichts miteinander zu tun haben.

Die Deutschen sind also fußballbegeistert wie nie zuvor. Das liegt auch darin begründet, daß viele junge Menschen in der Fanszene aufgrund des dort vorherrschenden Gemeinschaftsgefühls eine Art Ersatzfamilie und in ihrem Verein so etwas wie eine Ersatzreligion gefunden haben. Manchem mag der regelmäßige Stadionbesuch unbewußt als Gottesdienstersatz dienen.

In einem Land der wachsenden Einsamkeit stellt für den einen oder anderen jungen Fußballfan die Liebe zum Verein möglicherweise sogar eine Kompensation für einen nicht vorhandenen festen Lebenspartner dar. Daran möchte man denken, wenn man den Text der RW Essen-Hymne „Oh RWE“ (Adiole) der Schwedin Siw Malmkvist liest, die vor jeder Heimpartie im Stadion abgespielt wird und zugleich in der Kurzfassung eine besondere Bedeutung als Torhymne genießt: „Seit wir zwei uns gefunden, oh RWE; kenn ich nur frohe Stunden, oh RWE; ich hab den Himmel auf Erden, oh RWE; schöner kann’s nicht mehr werden, oh RWE. Die Welt für mich heißt du und ich; wie Luft und Licht, so brauch ich dich; du bist mein ABC, mein’ großes Einmaleins. (…) Ohne Sinn wär mein Leben, oh RWE; würde es dich nicht geben, oh RWE; bei dir fühl ich mich geborgen, oh RWE; freu mich heut’ schon auf morgen, oh RWE.“

Erziehungswissenschaftler Markus Meier bekräftigte jüngst in einem Interview mit dieser Zeitung (JF 21/24), daß „viel zu viele junge Männer inzwischen um das Thema ‘Familie’ einen Riesenbogen machen, da es sich ihnen als völlig unkalkulierbares emotionales und finanzielles Lebensrisiko darstellt“. Womöglich ist das auch deshalb ein zutreffender Befund, weil ihre Leidenschaft stattdessen dem (Vereins-)Fußball gehört. Ob es der deutschen Nationalmannschaft gelingt, diese Leidenschaft bei der Euro 2024 zu entfachen, wird sich zeigen.



Werner Harasym, Jahrgang 1972, über 20 Jahre als Sportjournalist für die Süddeutsche Zeitung tätig. Seit 1979 Spieler, Funktionär und Fan. Hat sich auch wissenschaftlich mit dem Thema „Sport und nationale Identifizierung“ befaßt.