Der Generation Z , also den etwa zwischen 1997 und 2012 Geborenen, ist manches in die Wiege gelegt, das Älteren häufig als Neuland gilt und sie sich nicht ohne Mühe aneignen müssen: zum Beispiel Techniken rund um das Internet, die mobile Kommunikation oder Computer-Spiele. Vor diesem Hintergrund ist die Analyse der Generationenprägungen ein reizvolles Unterfangen. Was Hänschen nicht gelernt hat, kann Hans zwar immer noch lernen. Er muß dafür aber, bedingt durch veränderte Synapsen-Verschaltung im Gehirn, in der Regel mehr Energie verwenden und Gewohnheiten in größerem Ausmaß umstellen.
Dem österreichischen Schriftsteller Tonio Schachinger, der als gut Dreißigjähriger nur wenige Jahre mehr auf dem Buckel hat als jene Alterskohorte, die er beschreibt, ist es gelungen, ein famoses Generationenporträt vorzulegen. Dieses schließt ein mitunter weit ausgreifendes Sittengemälde seines Heimatlandes ein. Nicht zufällig wird öfter auf Geschehnisse der unmittelbaren Gegenwart angespielt, die vielen Rezipienten in einem Jahrzehnt gar nichts mehr sagen dürften. Schachinger will sich wohl in guter österreichischer Tradition, etwa in der Nachfolge Thomas Bernhards („Heldenplatz“), als Kritiker der miefig-konservativen Seiten Österreichs hervortun. Etliche Traditionen dieses Landes, seien es religiöse, seien es politische, sind Teilen der Intelligenz nach wie vor ein Dorn im Auge. Sie leisten gern nachholenden Widerstand.
Die ehemalige Sommerresidenz der Habsburger erscheint als adäquater Ort, manches Erbe aus der Vergangenheit einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Der Autor absolvierte das Theresianum, das im Roman Marianum heißt, als Schüler selbst. Es ist schwer zu sagen, wieviel an autobiographischen Erlebnissen in dem Text steckt.
Der Protagonist, der Gymnasiast Till Kokorda, fühlt sich in dieser elitären Einrichtung offensichtlich nicht wohl. Daran ändert auch das eindrucksvolle Ambiente, Sportplätze und ein Park in der direkten Umgebung, nichts. Snobismus, unter seinen Mitschülern öfter gepflegt, ist ihm, der eher aus Durchschnittsverhältnissen stammt, fremd. Überdies ist Till von familiären Problemen geplagt. Die Trennung seiner Eltern und der Tod seines Vaters bereiten ihm Kummer. Die Darstellung von Sorgen, Ängsten und Nöten nehmen folgerichtig breiten Raum ein. Bekannte Schultraumata kann man auch in klassischen Internatsromanen wie in Robert Musils „Verwirrungen des Zöglings Törleß“ nachlesen. Diese Texte leuchten die Abgründe von Macht und sadistischen Grausamkeiten freilich weitaus intensiver aus als der angeblich „harmlose Erzählstoff“ Schachingers, den einer der Rezensenten registrierte. Die Schulwelterfahrungen erscheinen heute nicht anders als über lange Zeiträume hinweg, haben sich aber doch geändert.
Angesichts der tristen Situation verwundert es nicht, daß sich Till in eine Scheinwelt flüchtet. Seine Leidenschaft ist das Gaming. Besonderes Interesse entwickelt er für das Echtzeit-Strategiespiel Age of Empires 2, das durch immer neue Varianten ergänzt wird. Bei der Beschreibung dieser Computer-Simulationen läuft der Autor zur Höchstform auf. Genüßlich verweist er darauf, wie viele Erwachsene davon nichts verstehen. Till mutiert auf diesem Feld als Top-10-Spieler schnell zur Online-Berühmtheit. Auf diese Weise bewältigt er auch die Lebenskrise nach dem Tod des Vaters. Für ihn handelt es sich um virtuelle Glückswelten.
Mitunter sadistische Erziehungsmethoden
Doch die volatilen Gaming-Universen sind nur ein Teil der Lebenswelt des Schülers, zu der auch herkömmliche Literaturlektüren zählen. Die große Negativfigur der Narration wird in der Person von Tills Klassenvorstand konturiert. Es geht um „den Dolinar“, der aufgrund seiner mitunter sadistischen Erziehungsmethoden berüchtigt ist. Selbst rasches Gehen auf dem Gang und fehlende Grußerwiderung wird sanktioniert. Ebenso erscheinen seine Ansichten aus der Zeit gefallen. Zwischen den Zeilen wird aber immerhin gelobt, daß er den herkömmlichen Bildungskanon nicht für obsolet hält.
Ein weiteres großes Themenfeld sind die sozialen Kontakte der Schüler untereinander. Es lohnt sich, die porträtierten Charaktere genauer zu betrachten, heißen sie nun Fina, Feli, Kjell, Alexander, Palffy oder Khakpour. Aus den Schilderungen ist ein ganzes Kaleidoskop „Jugend der 2010er Jahre“ wahrzunehmen. Man kann förmlich im Laufe des Textes miterleben, wie sich der Reifungsprozeß der Jugendlichen beziehungsweise der jungen Erwachsenen vollzieht, wie sie sich Gedanken machen um alles Mögliche, vom Rauchen über den Konsum von Alkohol bis zu den ersten sexuellen Erfahrungen und anderen Emotionen.
Am Schluß des Romans endet die Schulzeit für Till. Kurz vor dem ersten Corona-Lockdown kehrt er von einer China-Reise zurück. Zusammen mit seiner Freundin Feli, mit der er virtuelle Pferde stiehlt, verbringt er diese Zäsur. Tills Urteil über die Schulzeit im Rückblick ist eindeutig: Diese Phase war die Hölle!
Schachingers Werk, das den Deutschen Buchpreis 2023 erhalten hatte, ist ebenso hinreißend wie humorvoll geschrieben. Es braucht nicht viel prophetischer Begabung, um weitere Erfolge des Autors vorauszusehen. Sein schon jetzt beachtlich großes Publikum dürstet nach weiterer Lektüre und vergleicht den Helden mit dem frühverstorbenen Literaten Wolfgang Herrndorf und seiner Erzählkunst.
Tonio Schachinger: Echtzeitalter. Roman.Rowohlt Buchverlag, Hamburg 2023, gebunden, 368 Seiten, 24 Euro