Die schmale Biographie, die der Berliner Kulturhistoriker Philipp Felsch dem Philosophen Jürgen Habermas pünktlich zum 95. Geburtstag am 18. Juni auf den Gabentisch legt, beginnt mit einem Besuch des Autors in Starnberg. Dort, wo ihn der Denker in seinem vom Atlantikwall ins bayerische Voralpenland umgesetzten Bauhaus-Bunker mit Tee und Marmorkuchen bewirtet. Auf die „gepflegte Normalität“ dieser ersten Begegnung, die dazu dienen soll, das Vertrauen des notorisch Mißtrauischen zu gewinnen, fällt jedoch kurzzeitig ein Schatten, als Felsch, Jahrgang 1972, Nähe stiften will, indem er „Gummersbacher Reminiszenzen“ zur Sprache bringt: Besuche bei seinen Großeltern, Nachbarn der in Gummersbach beheimateten Eltern des Philosophen.
Habermas reagierte auf diesen Annäherungsversuch betont „reserviert“. Weil er gleich nach dem Abitur Gummersbach verlassen habe und, wie die meisten Angehörigen seiner Alterskohorte, auf Distanz zur Familie gegangen sei. Also wechselt Felsch taktvoll das Thema. Und hat doch dem Leser bereits den roten Faden in die Hand gedrückt, der ihn durch diese als Intellektuellengeschichte der Bonner Republik konzipierte, pointilistisch hingetupfte und stets kurzweilige Biographie führt.
Der rote Faden heißt Identität. Denn die Probleme, die Habermas aus seinem Deutschsein erwachsen sind, speisen sein zumindest im quantitativen Sinne monumentales Œuvre. Das generationstypische, oft bis zum Selbsthaß radikalisierte Fremdeln mit dem Eigenen ist nur zu verstehen als Reaktion auf die von Felsch sorgsam ausgesparte Jugendgeschichte des Sohnes aus gutbürgerlicher Mitläufer-Familie: Vater Syndikus, NSDAP-Mitglied, Besatzungsoffizier in Belgien, er selbst Jungvolkführer, der erst acht Wochen nach Adolf Hitlers Selbstmord den terroristischen Kern des NS-Regimes erkannt und sich von seiner „Führer“-Fixierung befreit haben will.
Seitdem suchte Habermas nach einer anderen, einer „postnationalen“ Identität. „Amerika“ sei ihm darum zum „wichtigsten Ausland“ geworden. Eine Obsession, die ihm schließlich den Ruf als staatstragender „Theoretiker der Reeducation“ (Peter Sloterdijk) und, von der äußersten Linken noch verächtlicher gemeint, den eines „Nato-Philosophen“ eintrug. Und die eine Verwandlung bewirkte, die auch äußerlich nachhaltig gelang: „Wie ein Amerikaner“, in Chinos und Reeboks, habe ihn der Starnberger Hausherr empfangen, notiert Felsch, der als braver Schüler seines Meisters davon überzeugt ist, daß die Deutschen es allein den USA verdanken, nach 1945 „wieder Anschluß an die westliche Zivilisation“ gefunden zu haben.
Wie sein geistiger Enkel, der pseudogrüne Wirtschaftsminister Robert Habeck, kann der rheinische Provinzler Habermas mit Deutschland nichts anfangen. Mit deutscher Geschichte, Kultur, Landschaft hatte er nie etwas am Hut. Als sich vor dem Mauerfall einmal die Chance bot, in Weimar Station zu machen, verzichtete er darauf, Goethe an seiner Wirkungsstätte zu huldigen. Die DDR ist ihm Niemandsland, die Wiedervereinigung in seinem „politischen Erwartungshorizont“ nicht vorgesehen. Als sie sich 1989 anbahnte, traf sie den Bewohner der „apolitischen Wohlfühloase“ BRD wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Der ihn lediglich dazu aufputschte, den „besitzergreifenden Territorialfetischismus“ der Einheitsbefürworter zu attackieren und Karl Heinz Bohrer zu beknien, einen Essay nicht zu veröffentlichen, der dafür plädierte, jetzt den Mantel der Geschichte zu ergreifen, um die weit gediehene „hochneurotisierte Selbstauflösung der Deutschen als Nation“ rückgängig zu machen.
Besser kämen die Deutschen, wie ihnen sein Lehrer Theodor W. Adorno in den 1950ern riet, „ohne Leitbild aus, ohne Denkmäler, Rituale, Fahnen und den ganzen Quatsch“. Mit dem Nationalismus des 19. Jahrhunderts gelte es ein für allemal aufzuräumen, um eine „vernünftige Identität“ auszubilden. Die im Zeichen von Maastricht und D-Mark-Preisgabe eine weltbürgerliche, mindestens aber eine europäische zu sein habe, weil die Brüsseler EU eine treffliche Lebensversicherung gegen den drohenden neudeutschen Nationalismus sei.
Die Frage, wer denn das Subjekt ist, das universalistische Normen setzt und politisch, ökonomisch, militärisch, kulturell vollstreckt, bereitet Habermas kein Kopfzerbrechen. Jene anonyme Macht, die er zwar mit Vorliebe als „die Moderne“ oder „der Westen“ vernebelt, die aber doch stets identisch ist mit den USA, dem seit 1945 global dominierenden Beauftragten des Weltgeistes.
Habermas’ Zauberformel für die multikulturell-postnationale Gesellschaft, die seit den 1990ern mit dem anschwellenden Zustrom von Menschen aus islamischen Steinzeitkulturen auf die „Endlösung der deutschen Frage“ (Robert Hepp) zuläuft, lautete: Zukunft braucht keine Herkunft. Denn einen durch ethnisch-kulturelle Homogenität gesicherten „Hintergrundkonsens“ hätten schrankenlos „diverse“ Großkollektive nicht nötig. Weil nicht mehr traditionelle Bindekräfte des Nationalstaats, sondern allein dürre rechtsstaatlich-demokratische Regeln, denen angeblich alle Bürger gehorchen würden, garantieren, daß ein „vernünftiges normatives Einverständnis auch unter Fremden möglich“ werde („Die Einbeziehung des Anderen“, 1999).
Womit Habermas glaubt, die richtige geschichtspolitische Konsequenz aus dem Holocaust zu ziehen. Angesichts dieses Menschheitsverbrechens hätten die Deutschen das Recht eingebüßt, ihre politische Identität auf etwas anderem zu gründen als auf universalistische staatsbürgerliche Prinzipien, in deren Licht nationale Traditionen günstigstenfalls selbstkritisch gesäubert angeeignet werden dürften. Um solche Phantastereien historisch zu unterfüttern, legte er 2019 einen 1.700seitigen Wälzer zur abendländischen Beziehungsgeschichte zwischen Religion und Rationalismus vor, der die naive Hoffnung nähren sollte, daß sich mit den eingewanderten „Vernunftsubjekten“ des totalitären Islam ein ähnliches Arrangement zwischen Glauben und Wissen treffen ließe wie zwischen Christentum und Aufklärung.
Auf der Suche nach einem soliden wissenschaftlichen Fundament für seine Vision des Zusammenlebens mit Fremden entdeckte dieser „nicht-deutsche Deutsche“ (Habermas’ Ideal) den „herrschaftsfreien Diskurs“. Ein Konstrukt, das voraussetzt, daß Wahrheit im Gespräch zu ermitteln und in vernünftiges Handeln zu übersetzen ist. Ob er sich jemals gewünscht habe, fragt Felsch, dieses Märchen von der „idealen Sprechsituation“, wo fern von den Faktoren Macht und Einfluß allein der „eigentümlich zwanglose Zwang des besseren Arguments“ regiert, niemals erzählt zu haben? Dafür spricht die frühe Distanzierung von diesem „irreführenden Ausdruck“. Und doch blieb die „den alten linken Geist der Utopie“ atmende Formel bis heute das Synonym für die Weltfremdheit eines von der „erlösten Menschheit“ träumenden Philosophierens, das in marxistischer Tradition lediglich das paradis terrestre der klassenlosen Gesellschaft durch die ideale Kommunikationsgemeinschaft ausgetauscht hat.
Jedenfalls trug die 1982 präsentierte Theorie des kommunikativen Handelns, die die Legitimität des Gemeinwesens an einen vermeintlich zwanglosen, universellen Konsens fesselt, ihrem Urheber seitdem reichlich Hohn und Spott ein. Nicht zuletzt, weil seine eigene „kommunikative Praxis“ sich nicht am Konsens, sondern an Carl Schmitts Politikverständnis orientiere, das die Welt manichäisch in Freund und Feind scheide. Die geradezu „populistisch“ simple Rhetorik seiner „robusten öffentlichen Interventionen“ ziele darum auf Vernichtung, nicht auf Versöhnung. Höflich formuliert Felsch hier, was ein gleichaltriger Adorno-Schüler, der Hamburger Philosoph Klaus Oehler in seinen Memoiren („Blick aus dem Philosophenturm“, 2007) mit sarkastischer Schärfe geißelt: Ausgerechnet Habermas und andere „Missionare einer Ethik des Diskurses und der Rationalität des Argumentierens“ hätten regelmäßig mit mimosenhafter Empfindlichkeit, wüster Polemik und Kommunikationsabbruch auf Gegenargumente reagiert.
Immerhin, dank solch rüder Methoden besiegte Goliath Habermas David Nolte im Historikerstreit 1986/87, der letzten Schlacht um die mentale Ausrichtung der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, die sich zwischen „Auschwitz als Staatsräson“ oder „Schlußstrich“ zu entscheiden hatte. Den mit diesem Sieg für Jahrzehnte etablierten westdeutschen „Erlösungsrepublikanismus“ (Dirk Moses) störten erst vor kurzem Anwälte des „globalen Südens“, die die Singularität des Völkermords an den europäischen Juden unter Verweis auf die Millionen Opfer der Sklaverei bezweifelten. Solche Relativierungen erhielten dann durch den am 7. Oktober 2023 eskalierten israelisch-palästinensischen Konflikt neue Nahrung. Der Werte-Universalismus von Habermas, der nie eine Kritik an der israelischen Siedlungspolitik wagte, stoße damit an ethnisch-religiöse Grenzen, die ihm Araber und Juden ziehen.
Diese aktuellen Verwerfungen machten dem „Kosmopoliten“ schmerzlich klar, daß die proklamierte „Singulariät“ des in den „Teufelskreis des Partikularismus“ (Ernst Tugendhat) gebannten Holocaust-Gedenkens nicht einmal dazu tauge, in den Köpfen und Herzen des deutschen „Tätervolks“ eine universalistische Gesinnung gedeihen zu lassen, geschweige denn eine Erinnerungskultur internationalen Zuschnitts zu prägen. Eine von Tradition und Geschichte entkoppelte kollektive Identität der Deutschen erweise sich damit nun genauso als Illusion wie das Vertrauen auf die „normative Autorität“ des Weltpolizisten USA. All das, was sein Leben ausgemacht habe, klagt der Philosoph während der letzten Starnberger Audienz seinem Biographen, gehe gegenwärtig Schritt für Schritt verloren. „Sankt Jürgen“ erleidet also derzeit, was ihm Günter Maschke schon 1987 prophezeite: täglich in drastischer Weise von den morgendlichen Nachrichten widerlegt zu werden.
Foto: Jürgen Habermas bei einer Pressekonferenz im Heinrich-Heine-Institut in Düsseldorf (Archivfoto 2012): Auf der Suche nach einer postnationalen Identität
Am 15. Juni diskutiert der Kulturwissenschaftler Philipp Felsch auf der phil.COLOGNE, dem internationalen Festival für Philosophie, mit der Philosophin Eva von Redecker über die Frankfurter Schule und die Zukunft der Kritischen Theorie. www.philcologne.de
Philipp Felsch: Der Philosoph. Habermas und wir. Propyläen Verlag, Berlin 2024, gebunden, 256 Seiten, 24 Euro