Nach nicht einmal neun Monaten hat die Europäische Zentralbank (EZB) ihren Leitzins wieder gesenkt – um 0,25 Prozentpunkte auf nun 4,25 Prozent – und das noch bevor die US-Zentralbank Fed, der die internationale Zinsführerschaft zukommt, ihre Zinskosten vermindert hat. Warum die Eile? Die Inflation im Euroraum liegt mit 2,6 Prozent noch über der versprochenen Zwei-Prozent-Marke – und die EZB prognostiziert, daß weder in diesem noch im kommenden Jahr die wohlstandsvernichtende Inflationsrate ihre offizielle Zielmarke erreichen wird.
Doch die Euro-Volkswirtschaften mit ihrer gelähmten Wachstumsdynamik halten „normale Zinshöhen“ nicht mehr aus. Die Gefahr steigt, daß viele Kredite, die die Euro-Banken in ihren Bilanzen ausweisen, ausfallen. Vor allem aber treiben die EZB-Zinsen die Kreditkosten der maroden Staatshaushalte in die Höhe. Viele Regierungen scheuen Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen. Deshalb steigt der Druck auf die EZB-Räte, die Zinsen zu verringern. Das wird „fiskalische Dominanz“ genannt: Die Finanzlage der Staaten bestimmt, was die Zentralbank zu tun oder zu lassen hat. Eine beunruhigende Situation. Denn in der Vergangenheit hat sie in vielen Ländern zu sehr hoher Inflation geführt, weil die Zentralbanken die Regierungen mit immer mehr neuem Geld finanzierten.
Zwar betonen die EZB-Räte, so schnell werde es mit den Zinsen nicht weiter nach unten gehen. Doch ist das glaubwürdig? Selbstverständlich versuchen sie, ihr Gesicht zu wahren, nicht allzu offen erkennen zu geben, daß sie längst den politischen Zwängen unterlegen sind. Dabei kommt ihnen eine Entwicklung zur Hilfe: Das Geldmengenwachstum ist 2021 drastisch abgefallen, und das wiederum spricht dafür, daß die Inflation in den kommenden Monaten weiter fallen wird. Die EZB-Räte werden vermutlich die Gelegenheit beim Schopfe packen, die Zinsen weiter nach unten drücken, die Staatshaushalte entlasten – und das alles mit dem nachgebenden Inflationsdruck begründen. Doch dadurch wird sehr wahrscheinlich die Saat für die nächste Inflationswelle gelegt.
Den Regierungen und EZB-Räten kommt das nicht ungelegen: Es entwertet schließlich die reale Staatsschuldenlast. Daß das die Ersparnisse vieler Bürger im Euroraum herabsetzt, wird billigend in Kauf genommen.