Wenn Politiker etwas zu oft wiederholen, dann schwingt ein wenig Unsicherheit durch. Die bisherige EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen rief sich am vergangenen Sonntag unmittelbar nach Schließung der Wahllokale zur Siegerin aus. „Wir sind die stärkste Partei, wir sind der Anker der Stabilität“, sagte von der Leyen und der Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei, Manfred Weber (CSU) fügte hinzu: „Die EVP ist die einzige Volkspartei in Europa“. Und von der Leyen sei „die nächste Kommissionspräsidentin“.
Doch ganz so sicher ist das nicht. FDP-Chef Christian Lindner brachte es am Tag nach der Wahl auf den Punkt: „Von der Leyen ist in der Pole Position, aber nicht am Ziel.“ Der angestrebte und erhoffte Durchmarsch der europäischen Christdemokraten ist ausgeblieben. Und obwohl auch die Rechtsparteien ihre Ergebnisse ausbauen konnten, sind strategische Überlegungen wie die der italienischen Regierungschefin Giorgia Meloni bereits wieder Makulatur.
Frankreichs Republikaner wollen gegen von der Leyen stimmen
Für ein breites Mitte-Rechts-Bündnis wird es nun doch nicht reichen. Und nun wird in Brüssel und Straßburg erstmal kräftig gefeilscht werden müssen. FDP-Chef Lindner lockte am Tag nach der Wahl bereits die Sozialdemokraten. „Eine Mehrheit für eine Kommissionspräsidentin von der Leyen ist möglich abseits von den Grünen und der Rechtspopulisten. Es wird aber nicht zum Nulltarif gehen“, sagte der deutsche Finanzminister und nannte eine „Schuldenunion“ in Europa als Ausschlußkriterium.
Von der Leyen muß zunächst von den EU-Staats- und Regierungschefs nominiert werden. Dafür sollte sich eine Mehrheit finden lassen. Anschließend muß sie auch von einer Mehrheit der Abgeordneten im Europaparlament gewählt werden. Und das ist keineswegs ausgemacht. Bereits in der vergangenen Legislaturperiode war das eng und gelang nur, weil Unterstützung aus Polen und Ungarn kam, was derzeit als ausgeschlossen gilt. „Die demokratischen Kräfte, mit denen wir Europa früher sehr gut gestaltet haben, sollten das Wahlergebnis anerkennen“, forderte Daniel Caspary, Chef der CDU/CSU-Gruppe im Europaparlament. Denn selbst die eigenen Reihen sind nicht so geschlossen, wie es die deutschen Christdemokraten gerne hätten.
Die französischen Républicains, obwohl Mitglied der EVP, haben bereits angekündigt, gegen die Deutsche stimmen zu wollen. Nach den Wahlergebnissen konnte die EVP-Fraktion im EU-Parlament künftig 184 (25,6 Prozent) statt bisher 176 Sitze gewinnen. Allerdings gehen Insider davon aus, daß 15 bis 20 Abgeordnete aus diesem Kreis gegen von der Leyen stimmen könnten.
Die Sozialdemokraten (S&D) blieben mit 139 Abgeordneten (19,3 Prozent) stabil. Die Liberalen (Renew Europe) schrumpfen kräftig von 102 auf 80 Sitze. Die relativ stärksten Verluste mußte die grüne Fraktion hinnehmen, die sich von 71 auf 52 Abgeordnete (7,2 Prozent) verkleinert. Dennoch scheiden die Grünen als Partner nicht automatisch aus.
Doch vor allem die deutschen Christdemokraten halten sie für unzuverlässig. Von der Leyen hatte kürzlich parteipolitische Bedenken hintangestellt. Wer für die EU, für die Unterstützung der Ukraine und für den Rechtsstaat sei, komme als Partner in Frage. Und das, erklärte von der Leyen kürzlich öffentlich, gelte auch für die italienische Regierung um Giorgia Meloni. Das war allerdings vor der Wahl und vor der Hoffnung, es könnte für Christdemokraten und eine gemäßigte rechte Fraktion reichen.
Nun kann von der Leyen die Rechten nicht einmal uneingeschränkt als Druckmittel einsetzen. Im Gegenteil. René Repasi, Chef der deutschen Sozialdemokraten im Europaparlament, stellte unmittelbar nach Bekanntgabe der Wahlergebnisse klar: „Wenn die EVP ihre Mehrheit rechts der Mitte sucht, sind die Sozialdemokraten nicht mehr im Spiel“, sagte er dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel. Die Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten, Iratxe García Perez aus Spanien, signalisierte allerdings grundsätzlich Bereitschaft, mit der EVP zusammenzuarbeiten. Aber auch sie betonte, daß sie an keinen Verhandlungen teilnehmen werde, bei denen die Rechten mit am Tisch säßen. Nun stellt sich die Frage, wer zuerst über seinen Schatten springt.
Polen könnte von der EVP einen hohen Preis fordern
Denn es gibt zahlreiche Unwägbarkeiten. Der liberal-konservative Ministerpräsident Polens, Donald Tusk, könnte einen hohen Preis fordern, nachdem er in seinem Land viel besser als erwartet abschnitt. In Frankreich hat Staatspräsident Emmanuel Macron kurzerhand Neuwahlen ausgerufen. Große Zugeständnisse auf europäischer Ebene wird er erstmal nicht machen können. Daß die Wahl der Kommissionsspitze nicht immer so verläuft wie vorhergesehen, mußten die Christdemokraten vor fünf Jahren erfahren. Damals galt EVP-Mann Weber als gesetzt, doch er fand keine Mehrheit. Am Ende mußte von der Leyen einspringen und schaffte den Sprung mit einer knappen Mehrheit von neun Stimmen.
GUE/NGL36 Sitze
Die Linke im Europäischen Parlament (-1)
G/EFA53 Sitze
Die Grünen/Europäische Freie Allianz(-18)
S&D135 Sitze
Progressive Allianz der Sozialdemokraten(-4)
RE79 Sitze
Renew Europe(-23)
EVP186 Sitze
Europäische Volkspartei(+10)
EKR73 Sitze
Europäische Konservative und Reformer (+4) ID58 Sitze
Identität und Demokratie(+9) NI100 Sitze
Fraktionslose Abgeordnete(+38)