Herr Professor Scholdt, werden Sie die EM verfolgen?
Günter Scholdt: Ja, aber mit gemischten Gefühlen. Ich will keinem Fußballbegeisterten den Spaß an der EM vermiesen. Doch bei der feindlichen Übernahme des parteipolitisch dienstbaren DFB stecken echte Fans oder Patrioten in der Zwickmühle. Denn jeder Erfolg der Nationalmannschaft dient zugleich der Propagierung fataler woker Globalagenden oder der Ausgrenzungskampagne gegen Regierungskritiker. Mit meiner von Kindheit an währenden naiven Faszination ist es angesichts der überbordenden Kommerzialisierung und schamlosen Politisierung jedenfalls vorbei.
Sprachen nicht die Römer der Antike schon von „panem et circenses“? „Brot und Spiele“?
Scholdt: Das Phänomen ist uralt, aber dadurch nicht harmlos. Es war stets ein Dekadenz-Symptom, wenn neben der Forderung nach „Brot“ auch „Spiele“ einen so großen Teil des öffentlichen Lebens ausmachten. Heute werden wir ja rund um die Uhr mit entsprechenden Spektakeln und Sendungen versorgt. Auch früher versuchten Repräsentanten der Politik ein wenig vom Popularitätskuchen der Sportler zu naschen. Doch inzwischen mutierte die Sport- zur eigentlichen Polit-arena, wo man groteskerweise etwa Bayer Leverkusen bestraft, weil sich Fans nicht regierungskonform zur Genderideologie äußern. Der zunehmend institutionelle Mißbrauch des Sports für tagespolitische Zwecke verhält sich gegenüber früheren eher harmlosen Image-Verbesserungen von Kanzlern und Co. wie ein Husten zur Lungenentzündung.
Der kommerzielle Sündenfall, schreiben Sie, war die Aufhebung des Amateurstatus in England im Jahr 1885.
Scholdt: Ich fügte allerdings hinzu, das sei nicht die ganze Wahrheit. Denn wie in anderen Künsten bewirkte die Professionalisierung zugleich bewundernswerte Leistungssteigerungen. Und selbst bei Einführung der Bundesliga gab es noch eine „unschuldige“, nicht von der Basis abgehobene Phase des Berufsspielertums. Auch verdiente damals kein Superstar in einer Woche so viel wie etliche Zuschauer in ihrem ganzen Leben. Die Clubs profitierten von kontinuierlicher Nachwuchsförderung und waren nicht wie heute weithin als Getriebene einem ruinösen weltweiten Monopoly des großen Geldes ausgesetzt.
Sie halten Fußball für den „Spiegel des Lebens“.
Scholdt: Die Auffassung von der Vorbildfunktion pointierte der Schriftsteller Manfred Hausmann 1966 in einem Jubiläumsvortrag beim DFB, der damals noch niveauvolle Referenten einlud. Ich teile seinen allzu idealistischen Ansatz nicht. Aber die Formel bleibt richtig, selbst wo man sie kritisch betrachtet. Denn natürlich zeigen sich auch gesellschaftliche Entartungen in einem solchen Massensport wie im Brennglas.
Warum messen Sie diesem Spiel so viel Aufmerksamkeit, so viel Energie, so viel Sinn zu?
Scholdt: Sport kommt unserem archaischen Bedürfnis entgegen, das Leben nicht zuletzt als Kampf zu verstehen, was es zweifellos auch ist. Daß dies zugleich spielerisch geschieht, nicht etwa militärisch, und durch humane Regeln eingehegt, erhöht seinen Reiz. Es kennt keine Klassenschranken und bietet einen Ausgleich gegenüber täglichen Ärgernissen einer zunehmend verlogenen Berufs- und Politwelt. Hier nämlich liegt die Wahrheit buchstäblich auf dem Platz: im ungeheuchelt offenen Duell, was viele als große Freiheit empfinden. Leider wird aber zunehmend auch der Sportkosmos manipulativ verfremdet.
Gibt es noch Hoffnung, daß der Fußball wieder so wird, wie Sie ihn erinnern?
Scholdt: Ich fürchte nein, solange diese politische Klasse am Ruder bleibt. Die Propaganda-Gewinne gegenüber einer wirklichen Alternative sind zu groß, als daß man auf sie verzichtete. Ohnehin gehört es zum Wesen der Postdemokratie, möglichst alle politikfreien Räume „zivilgesellschaftlich“ zu besetzen.
Professor Dr. Günter Scholdt, Jahrgang 1946, ist Literaturwissenschaftler und Historiker. Er war Leiter des „Literaturarchivs Saar-Lor-Lux-Elsaß“ in Saarbrücken. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in deutschsprachiger Literatur des 19. Jahrhunderts und aktuellen gesellschaftlichen Deformationen.
Siehe auch: Scholdts neues Buch „Fußball war unser Leben“ stellen wir auf der Literaturseite 21 vor.