Mit der Europawahl ist das deutsche Parteiensystem in Bewegung geraten. Herbe Verluste der Ampel-Parteien SPD und Grüne stehen eine affärenresistente, erfolgreiche AfD, die neue Wagenknecht-Partei (BSW) mit einem beachtlichen Ergebnis und CDU/CSU gegenüber, die ihren Volkspartei-Status nur dank ihrer treuen Senioren-Wähler retten kann. Das heterogene Lager der „sonstigen Parteien“ verspürt Aufwind.
Kevin Kühnert, SPD-Generalsekretär und Organisator des mißglückten Wahlkampfs, ist immerhin ehrlich. „Wir haben ein Wahlergebnis erlebt, das für den Stolz der SPD eine Kränkung bedeutet. Das schmerzt mich“. Ein ungewöhnliches Eingeständnis, verursacht durch die ihm verhaßte AfD, die die SPD am vergangenen Sonntag deklassiert hat. Daß die Blauen deutlich vor der Kanzlerpartei auf Platz zwei einliefen, die Genossen können es immer noch nicht fassen. Und am bittersten ist wohl: 570.000 SPD-Wähler von 2019 stimmten für die AfD. SPD-Co-Chefin Saskia Esken drohte: „Sie werden nicht an die Macht kommen gegen uns.“
An Teile der Gesellschaft habe man „für den Moment“ den „Anschluß verloren“, etwa im Osten, räumte Kühnert resigniert ein. „Da muß ich jetzt ein Jahr vor der Bundestagswahl einfach festhalten, wenn das so bleibt, gewinnen wir damit keine Bundestagswahl.“ Als Folge ihres Wahldebakels will die SPD einen Sparhaushalt auf Kosten des sozialen Zusammenhalts verhindern. Personelle Konsequenzen? Vertrauensfrage des Kanzlers im Bundestag, Neuwahlen, wie von CDU/CSU, AfD und BSW gefordert, wird es nicht geben. Knapp 24 Stunden nach der Bruchlandung bequemte sich Kanzler Scholz (SPD) zu einem knappen Kommentar. „Keiner ist gut beraten, der jetzt einfach zur Tagesordnung übergehen will.“ Ach was. Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel brachte es auf den Punkt. „Die Bevölkerung ist durch mit dieser Regierung.“
Söder nennt Scholz einen „König ohne Land“
Eine Wende zum Besseren ist nicht in Sicht. Zumindest nicht bis zum September. Dann werden die Landtage in Sachsen, Thüringen und Brandenburg gewählt. Am 3. Juli will die Ampel den Haushaltsentwurf 2025 vorlegen. Geschätzte Haushaltslücke 30 Milliarden Euro. Die Verabschiedung des Rentenpakets steht in den Sternen. Bundesfinanzminister Christian Lindner lehnt Steuerhöhungen oder eine Abschaffung der Schuldenbremse kategorisch ab, ist froh, daß die Liberalen bei der Wahl mit einem blauen Auge davongekommen sind. Vorsorglich spricht er Scholz sein Vertrauen aus. Gut fünf Prozent sind freilich ein sehr dürftiger Anspruch, schaut man auf das Ergebnis des BSW, das aus dem Stand über sechs Prozent geschafft hat. Oder die paneuropäische Partei Volt (Wahlwerbung „Sei kein Arschloch“), die auf 2,5 Prozent kam. Kleinpartei mit Zukunft?
Klein angefangen haben einst die Grünen, jetzt sind sie die dominierende Kraft in der Bundesregierung. Die herbe Wahlschlappe ist auch Folge des dramatischen Imageverlusts der Öko-Partei seit letztem Jahr. Robert Habeck, früher Publikumsliebling der Jugend, dann gestrauchelt durch das Heizungsgesetz, 2025 Vizekanzler mit Ambitionen aufs Kanzleramt? Ist ein grüner Kanzlerkandidat nach der Wahlklatsche noch sinnvoll? Bei den von ihnen gehätschelten Jungwählern kam es für die Grünen besonders dicke. Absturz von 44 auf nur noch 11 Prozent.
Anders herum geht es bei der AfD. 16 Prozent der 16- bis 24Jährigen haben die Blauen gewählt. Ein Plus von 11 Prozentpunkten. „Wir haben funktionierende Elternhäuser, die Ideologisierung in den Schulen funktioniert nicht“, stellte AfD-Co-Parteichef Tino Chrupalla fest, der sich mit Alice Weidel entspannt den Journalisten präsentierte. Da war die Causa Krah schon gelöst. Das Enfant terrible auf Platz 1 der Europaliste nimmt zwar den Erfolg bei den Jungwählern für sich in Anspruch. Aber es half ihm nicht. Berichte über mögliche Verbindungen zu prorussischen Netzwerken und wegen China-Verbindungen sowie wohl auch die schillernde Persönlichkeit Krahs wogen stärker.
Bloß raus aus den Schlagzeilen. So wird der Spitzenkandidat nicht der neuen AfD-Delegation im Europäischen Parlament (EP) angehören. Auf der konstituierenden Sitzung der 15 neu gewählten AfD-Abgeordneten stimmten acht Parlamentarier gegen eine Aufnahme, vier dafür, drei enthielten sich. Ein „Irrweg“, schimpfte Krah, der „weiter laut und erfolgreich“ für die AfD arbeiten will.
In die EP-Delegation geschafft hat es dagegen Petr Bystron, dem vorgeworfen wird, er habe Geld aus Rußland angenommen. Die Generalstaatsanwaltschaft München ermittelt wegen des Verdachts der Bestechlichkeit und der Geldwäsche. Doch konnte die Nummer 2 auf der Liste die Delegation offenbar durch eine eidesstattliche Versicherung überzeugen, daß die Vorwürfe falsch seien. Neuer Delegationsleiter wurde damit die Nummer 3, der Thüringer René Aust.
Der 37jährige ist gewissermaßen ein Anti-Krah. Ruhig, gelassen, kein Selbstdarsteller. Im Gleichklang mit Weidel kündigt er Gespräche mit dem französischen Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen an. Das Ziel ist eine Wiederaufnahme in die rechte ID-Fraktion des EP, die die AfD wegen umstrittener Äußerungen Krahs kurz vor der Wahl ausgeschlossen hatte (JF 23/24). Nur „auf Augenhöhe“ sei eine Zusammenarbeit mit dem RN möglich, stellte Aust klar. Der von Le Pen betriebene Rauswurf der AfD hat die Parteispitze nachhaltig verärgert.
Nach der EP-Wahl ist das Selbstbewußtsein der AfD-Spitze gewachsen, innen- und außenpolitisch. „Wenn man Erfolge hat, braucht man sich nicht hübsch machen“, bringt es Chrupalla auf den Punkt. Daß der Erfolg noch größer hätte ausfallen können, machte Weidel später deutlich. „Wir haben das Potential.“
Ähnlich äußerte sich Friedrich Merz auf die CDU bezogen. „Mit 30 Prozent liegt es an der Untergrenze dessen, was ich erwartet habe.“ Fragen nach der Kanzlerkandidatur wich er ebenso aus wie CSU-Chef Markus Söder, der Scholz einen „König ohne Land“ nannte. In der bayerischen Schwesterpartei werden aufmerksam Merz’ schlechte Umfragewerte verfolgt; noch hinter Kanzler Scholz. „Alle Ministerpräsidenten haben die Regierungserfahrung und auch die Fähigkeit zur Kanzlerkandidatur“, hatte Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst vor Schließung der Wahllokale betont. Die Union will ihre K-Frage nach den Wahlen in Ostdeutschland klären.
Für Aufmerksamkeit sorgte Merz mit seiner politischen Einordnung von Sahra Wagenknecht. „Sie ist in einigen Themen rechtsextrem, in anderen wiederum linksextrem.“ Merz’ Stellvertreterin Karin Prien hatte kürzlich eine Zusammenarbeit mit dem BSW nach den Landtagswahlen nicht ausgeschlossen. Und Wagenknecht, die Aufsteigerin des Jahres, jubelte und bediente sich der Rhetorik der AfD aus deren Gründungszeit: „Wir sind gekommen, um zu bleiben.“