© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 25/24 / 14. Juni 2024

Keiner weiß, was die planen
Europameisterschaft: Aus Furcht vor islamistischen Anschlägen setzt die Politik auf hohen Sicherheitsaufwand
Peter Möller

Der Anschlag war generalstabsmäßig geplant. Nachdem zwei Sprengsätze auf der Fanmeile detoniert waren, eröffneten die bewaffneten Angreifer mit automatischen Waffen das Feuer auf die fliehenden Menschen und richteten bei der Europameisterschaft in Deutschland ein Blutbad an. Solch ein Szenario ist für die Bundesregierung und die deutschen Sicherheitsbehörden ein Albtraum, den es bei dem an diesem Freitag beginnenden Fußballturnier um jeden Preis zu verhindern gilt. 

Seit Jahren arbeiten das Bundesinnenministerium und die Innenressorts der Länder zusammen mit Polizei und Nachrichtendiensten unter Hochdruck an Sicherheitskonzepten, um die erwarteten 2,7 Millionen Zuschauer in den Stadien und die bis zu zwölf Millionen Menschen in den Fanzonen zu schützen.

Zwar gibt es nach Angaben von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) nach wie vor keine konkreten Hinweise auf geplante Anschläge während der EM. Doch sie sagt auch: „Die Sicherheitslage ist angespannt“. Das gelte für den Cyberbereich ebenso wie für den Islamismus und andere Bedrohungslagen. Jenseits des von Faeser notgedrungen verbreiteten Zweckoptimismus gibt es auch andere Stimmen, die die Lage nicht so positiv einschätzen.

Eine grundsätzliche  Gefährdungslage erkennt auch der Islam- und Politikwissenschaftler Michael Kiefer von der Universität Osnabrück. „Man muß realistischerweise sagen: Wir wissen nicht,  was diese Leute konkret planen“, sagte der Wissenschaftler, der zu einer Expertengruppe beim Innenministerium gehörte, dem Tagesspiegel. „Die EM wäre für Islamisten ein mögliches Ziel. Mit gezielten Anschlägen könnten Sie die Bevölkerung in Angst und  Schrecken versetzen. Aber das spielen die Sicherheitsbehörden durch.“ Die seien „hellwach“ und hätten bereits einige mögliche Anschläge verhindert, so Kiefer. 

„Ein Familienleben ist für Polizisten kaum mehr möglich“ 

Zuletzt hatte der frühere Agent des Bundesnachrichtendienstes (BND), Gerhard Conrad, vor Anschlägen auf die Fußball-Europameisterschaft durch Anhänger des „Islamischen Staates“ gewarnt. „Das ist ein besonders naheliegendes Anschlagsziel, weil es eine Vielzahl an Angriffsszenarien ermöglicht. Da sind die Stadien oder der öffentliche Nahverkehr, aber auch alle Public-Viewing-Veranstaltungen“, sagte Conrad dem Handelsblatt. „Rein theoretisch“ seien auch Anschläge mit Drohnen möglich. Trotz aller geplanten polizeilichen Maßnahmen werde es einen Rundum-Schutz für die EM wohl kaum geben können.

Zu dieser Einschätzung kommt auch der Sprecher der Berliner Gewerkschaft der Polizei (GdP), Benjamin Jendro. Zwar seien die Fußballspiele in den Stadien aufgrund des großen Personaleinsatzes der Polizei „sehr, sehr sicher“. Anders sehe es bei den zahlreichen Veranstaltungen rund um die Stadien aus. „Und jeder kann sich vorstellen, wenn da 300.000, 400.000 Menschen auf der Fanmeile sind, das weckt dann vielleicht auch Potential beim einen oder anderen für irgendwelche Straftaten“, sagte er dem Sender RBB.

Insbesondere Berlin mit seiner riesigen, mit Kunstrasen ausgelegten Fanzone rund um das Brandenburger Tor, zu der Hundertausende Besucher erwartet werden, steht im Fokus der Sicherheitsbehörden. Die Berliner Polizei wird daher während des Turniers von Einsatzkräften aus anderen Bundesländern sowie von der Bundespolizei unterstützt. Dennoch versuchen die politisch Verantwortlichen auch hier, zu beruhigen. Innensenatorin Iris Spranger (SPD) spricht davon, daß die Gefährdungslage „abstrakt, aber unverändert“ sei. „Die Sicherheit der Berlinerinnen und Berliner sowie unserer Gäste hat oberste Priorität.“ 

Einig ist man sich bei den Verantwortlichen, daß die Behörden bei dieser EM mit einer ganz anderen Sicherheitslage konfrontiert sein werden als noch bei der umjubelten und absolut friedlichen Heim-WM 2006, die Deutschland und seinen internationalen Gästen seinerzeit das „Sommermärchen“ bescherte. Mittlerweile habe die „Bedrohung durch den Terror die Welt verändert und auch solche Großereignisse verändert“, sagte der damalige nordrhein-westfälische GdP-Landesvorsitzende Michael Mertens jetzt dem RBB.

Herzstück des Sicherheitskonzeptes von Bund und Ländern ist jetzt das eigens im nordrhein-westfälischen Neuss eingerichtete Kooperationszentrum, das International Police Cooperation Center (IPCC). „Neuss wird zur Polizeihauptstadt der Republik“, sagte der Innenminister des Bundeslandes, Herbert Reul (CDU). In dem für mehrere Millionen Euro in der Polizeischule von Nordrhein-Westfalen eingerichteten Zentrum sitzen 300 Beamte aus den Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern, von der Polizei bis zum Verfassungsschutz. 

Hinzu kommen internationale Polizeikräfte aus ganz Europa. 300 weitere Beamte sind im Auftrag des IPCC an den EM-Spielorten stationiert. Im IPCC sollen alle Informationen zusammenlaufen, ausgewertet und dann weitergeleitet werden. Ziel ist es, daß die verschiedenen Sicherheitseinheiten, zum Beispiel in den Stadien auf den Fanmeilen oder an den Grenzen, schnell alle notwendigen Informationen bekommen. Trotz des immensen Aufwands machte Reul bei der Eröffnung des Polizeizentrums Anfang der Woche deutlich, daß es eine hundertprozentige Sicherheit nicht geben könne: „Die Gefahr ist abstrakt hoch, und wir nehmen sie ernst, damit aus abstrakt nicht konkret wird.“

Wie angespannt die Sicherheitslage tatsächlich ist, zeigt die Verhaftung des deutsch-marokkanisch-polnischen Staatsangehörigen Soufian T. in der vergangenen Woche am Flughafen Köln-Bonn. Die Bundesanwaltschaft wirft dem 23 Jahre alten Mann nach Informationen der Süddeutschen Zeitung vor, die Terrorgruppe Islamischer Staat Provinz Khorasan (ISPK) finanziell unterstützt zu haben. 

Diese IS-Gruppe soll für das Massaker in einer Konzerthalle in Moskau sowie für die geplanten Anschläge in Köln und Wien zum Jahreswechsel vor einem Jahr verantwortlich gewesen sein. Das Brisante an dem Fall: Der junge Mann hatte sich kürzlich als Sicherheitskraft für Events rund um die Fußball-EM beworben und war bei der Sicherheitsüberprüfung aufgefallen.

Auch das Messerattentat von Mannheim, bei dem ein islamistischer Afghane einen Polizisten getötet und unter anderem den Islamkritiker Michael Stürzenberger schwer verletzt hatte (JF 24/24), hat die Anspannung der Sicherheitsbehörden noch einmal erhöht. Vor allem die Tatsache, daß der Mann sich offenbar in Deutschland radikalisiert hatte, aber bei den Behörden nicht auf dem Radar war, wirft die Frage auf, wie viele potentielle Attentäter derzeit noch in Deutschland unerkannt herumlaufen und nur auf eine günstige Gelegenheit warten, um zuzuschlagen. 

Polizei und Verfassungsschutz haben daher ganz genau registriert, daß die Terrorgruppe ISPK ihre Anhänger zu Anschlägen während der EM aufgerufen hat. Unter anderem hat die Gruppe auf ihren Kanälen ein Bild veröffentlicht, das einen Mann in einem Stadion mit einer automatischen Waffe zeigte, berichtet die Süddeutsche Zeitung.

Als eine weitere Herausforderung gilt der öffentliche Personenverkehr während des Turniers. Die Deutsche Bahn – ohnehin wegen mangelnder Pünktlichkeit und maroder Infrastruktur in der Kritik – will Hauptverkehrsmittel der EM werden. Bereits 100.000 „Fantickets“ habe das Unternehmen verkauft. Allein für die Sicherheit in den Zügen sollen 6.000 Bundespolizisten sowie 4.500 Sicherheitskräfte der Bahn wachen. Dazu kommen noch 350  Polizisten aus anderen EU-Ländern. 

Bei vielen Beamten der Polizeien des Bundes und der Länder hält sich die Vorfreude auf das Sportgroßereignis indes in Grenzen. Es herrsche große Frustration über Urlaubssperren und Auswärts-Einsätze, erfuhr die JUNGE FREIHEIT in vertraulichen Gesprächen mit Polizisten. Zur angespannten Sicherheitslage aufgrund der abstrakten Terrorgefahr komme noch der drohende Streß mit Fußballfans, von denen einige durchaus auf Krawall aus sein könnten.

Und vor allem in der Hauptstadt stöhnen die Ordnungshüter unter der Mehrbelastung. Denn da tagte ausgerechnet wenige Tage nach der Internationalen Luftfahrtausstellung ILA und unmittelbar vor Beginn der EM noch die Ukraine Recovery Conference, bei der sich Vertreter aus Politik und Wirtschaft über den Wiederaufbau des durch Rußlands Angriffskrieg schwer getroffenen Landes austauschen. Wegen der hochkarätigen Staatsgäste – der besonders gefährdete ukrainische Präsident Wolodomyr Selenskyj eingschlossen – galt Sicherheitsstufe 1 – inklusive verplombten Gullydeckeln, umgeleitetem Verkehr, gesperrtem Luftraum und Scharfschützen auf den Dächern. Medienberichten zufolge sind dafür über 2.000 Beamte im Einsatz. Aufgrund solcher Lagen sei „nicht nur die Bereitschaftspolizei, sondern alle Dienststellen mittlerweile weit über die Belastungsgrenze“ beansprucht, beklagte die GdP. Ein Familien- und Sozialleben sei  für Berliner Polizisten kaum mehr möglich.

Fotos: Nordrhein-Westfalens Innenminister Reul und Bundesinnenministerin Faeser in der Polizeizentrale der Fußball-EM: „Oberste Priorität“ / Polizisten patrouillieren auf der Fanmeile in Berlin (2016): Stöhnen über Mehrbelastung