Herr Berthold, begeistert Sie unsere Nationalmannschaft?
Thomas Berthold: Tja, meinen letzten persönlichen Eindruck von ihr hatte ich in Katar ...
Das ist zwei Jahre her, inzwischen gab es doch x Spiele.
Berthold: Ja, aber die WM war das letzte Turnier.
Klar, aber was ist mit den Siegen gegen Holland und Frankreich im März, machen die Ihnen keinen Mut?
Berthold: Natürlich ist es immer gut, wenn man gewinnt. Doch als ehemaliger Nationalspieler sage ich Ihnen: Freundschaftsspiele und dergleichen können Sie vernachlässigen, sie sind etwas völlig anderes als echte Turniere.
Warum?
Berthold: Wenn es um etwas geht, lastet ein ganz anderer Druck auf Ihnen. Das ließ sich jüngst gut bei der Niederlage Bayer Leverkusens gegen Atalanta Bergamo im Europa-League-Finale Ende Mai beobachten. Allein das macht also schon einen riesen Unterschied. Dazu kommt aber auch Praktisches: Schwächere Spieler bekommen eine Chance, junge, unerfahrenere werden ausprobiert, es wird mehr experimentiert. Zudem wird nicht mit vollem Einsatz gespielt, da man keine Verletzung riskieren will. Oder man schont sich, weil der Verein am Wochenende ein wichtiges Spiel bestreiten muß.
Sie gießen ja ganz schön Wasser in den süßen Wein der EM-Vorfreude.
Berthold: Nein, ich mache nur das „Juhu!“ – und bei nächster Gelegenheit das „zu Tode betrübt“ – der Medien nicht mit. Was aber nicht heißt, daß ich nicht zuversichtlich für die deutsche Elf bin.
Werden wir Europameister?
Berthold: Das muß der Anspruch sein.
Ist er aber auch realistisch?
Berthold: Ist es machbar? Auf jeden Fall! Ist es wahrscheinlich? Der Favorit für den Titel sind wir nicht. Allerdings läßt sich bei einer EM oder WM maximal die Gruppenphase prognostizieren. Danach, in der K.-o.-Phase – die meiner eigenen Erfahrung nach erst das wahre Turnier ist – sind Prognosen wegen der vielen Variablen Unsinn, da Weiterkommen oder Rausfliegen von einem einzigen Spiel abhängen. Mit Schottland, Ungarn und der Schweiz aber, die uns nun erst einmal in der Gruppenphase gegenüberstehen, haben wir keine unüberwindlichen Gegner.
Na ja, zuletzt konnten wir am 3. Juni mit 0:0 nicht einmal die Ukraine überwinden.
Berthold: Dennoch muß bei diesen Gegnern der Anspruch sein, erster unserer Gruppe zu werden. Und ich glaube, das schafft die Mannschaft auch.
„Zeigen, daß man mit der deutschen Nationalelf wieder rechnen muß“
Die Krise, in der sie vor einem Jahr noch steckte, ist überwunden: das Verdienst des neuen Bundestrainers?
Berthold: Ich will ihm nichts absprechen, aber Julian Nagelsmann hatte nur wenig Zeit, die Mannschaft vorzubereiten. Entscheidend ist, daß sie eine eingespielte Achse hat, das ist das A und O! Und daran ließ sich in den paar Monaten auch nicht mehr viel herumtüfteln. Mit Jonathan Tah und Antonio Rüdiger hinten, im Mittelfeld Toni Kroos und ich denke Kapitän Gündogan, der aber wohl nach hinten gezogen spielen wird, sowie vorne Kai Havertz, Florian Wirtz und Jamal Musiala steht diese Achse. Ins Tor hätte ich Marc ter Stegen gestellt, aber Manuel Neuer macht das natürlich auch.
Wenn Herr Nagelsmann nicht genug Zeit hatte, wer oder was hat dann die Elf aus der Krise geholt?
Berthold: Es ist ein neuer Konkurrenzkampf entstanden, die Einstellung stimmt wieder, und die Siege gegen Holland und Frankreich machen Hoffnung. Wichtig ist aber auch, daß Nagelsmann zusammen mit Rudi Völler dafür gesorgt hat, daß es anders als in Katar keine „Nebenkriegsschauplätze“ gibt, keine peinlichen politisch korrekten Auftritte und keine Spaltung der Mannschaft durch interne Debatten darum. So daß die volle Konzentration dem Turnier gelten kann.
Einen „Nebenkriegsschauplatz“ allerdings hat der WDR versucht zu eröffnen.
Berthold: Mit seiner Rassismus-Umfrage, ja. Aber Joshua Kimmich und Julian Nagelsmann haben ja deutlich gesagt, was sie davon halten.
So eine „Scheißumfrage“ (Nagelsmann), sei „absolut kontraproduktiv für die gute Stimmung“ (Kimmich). Sind Sie aber denn zufrieden mit der Stimmung: Zeigen wir unserer Elf genug moralische Unterstützung?
Berthold: Da ich im Ausland lebe, kann ich das nicht beurteilen. Was ich aber mitbekomme ist, daß die allgemeine Stimmung in Deutschland sehr schlecht ist. Von zehn Anrufen, die ich aus der Heimat erhalte, geht bei neun angesichts der Zustände, die mittlerweile in Deutschland herrschen, der Daumen runter. Mir scheint, daß es deswegen etwas an der Gelöstheit für eine EM-Euphorie fehlt. Doch ist das nur mein Eindruck von außen. Dabei ist das wirklich schade bei einer Heim-EM, und auch weil aus Sicht des Fußballs die EM sogar das anspruchsvollere Ereignis als eine WM ist, da die Leistungsdichte eine andere ist.
Unser letzter, politisierter und zugleich fußballerisch schwacher Turnierauftritt in Katar hat 2022 für Häme und Spott gesorgt. Hängt uns das in der Welt noch nach, spielt die Elf jetzt also auch gegen diese Peinlichkeit an?
Berthold: Ob das Politische noch erinnert wird, weiß ich nicht – ganz sicher aber unsere schlechte Leistung, und zwar nicht nur in Katar, sondern auch bei der WM 2018 in Rußland. Das Image, das wir uns da zugezogen haben, korrigiert sich nicht durch wohlfeiles Gequake, sondern nur, wenn wir wieder zeigen, daß wir etwas können und daß man mit der deutschen Elf rechnen muß.
Unmut gab es zuletzt bei etlichen Fans wegen des neuen Auswärtstrikots: Seine rosa Farbe sowie der Werbespot für das Heimtrikot, der auf Multikulturalismus abstellt, erwecken in der Tat den Eindruck, der DFB kann es einfach nicht lassen, politisch belehren zu wollen.
Berthold: Auch wenn ich im einzelnen gar nichts dagegen einzuwenden habe, man fragt sich schon, ob das wirklich immer sein muß.
Wegen der Gesänge auf Sylt hat die Uefa Österreich verboten, bei der EM wie geplant das Lied „L’amour toujours“ von Gigi D’Agostino beim Einzug ihrer Elf zu nutzen. Zu Recht?
Berthold: Merkt man eigentlich nicht, daß eine solche Maßnahme in keinem Verhältnis mehr steht? Und wenn man schon meint, eine so maßlose Reaktion müsse sein, warum dann nicht auch etwas Entsprechendes im Fall des ermordeten Polizisten von Mannheim? Das ist also in mehrfacher Hinsicht völlig unausgewogen. Allerdings muß man zugestehen, daß die Uefa als Veranstalter solche Vorgaben, aus welchen Gründen auch immer, machen darf.
Was sind die Gründe? Warum können Uefa und DFB nicht einfach einmal Fußball Fußball sein lassen?
Berthold: Tja, das ist eine gute Frage ... Die Verbände sind eben nicht frei von politischem Einfluß.
Warum eigentlich? Sie sind doch nicht existentiell von der Politik abhängig.
Berthold: Sport und Politik sollten aus Prinzip getrennt sein! Aber so ist es leider nicht, tatsächlich haben sich viele Querverbindungen gebildet. Denken Sie nur daran, daß DFB-Präsident Bernd Neuendorf aus dem NRW-Innenministerium kommt, wo das SPD-Mitglied politischer Beamter war.
Den Beamten der Berliner Polizei sind dagegen sogar schwarzrotgoldene EM-Wimpel an ihren Autos verboten, ebenso der Bundespolizei.
Berthold: Warum das?
Weil es gegen das Neutralitätsgebot verstoße.
Berthold: O Gott, da fällt einem nichts mehr ein!
Aufschlußreich: Polizisten mit Regenbogenflaggen am Christopher Street Day waren kein Problem. Ebenso nicht, daß Frau Faeser sich selbst in Katar erlaubte – Stichwort Armbinde –, was sie ihren Beamten verbietet.
Berthold: Man fragt sich wirklich, was in manchen Politikern vor sich geht? Als gäbe es sonst keine Probleme!
Der Titelgewinn, sagen Sie, muß der Anspruch sein. Was aber, falls das nicht gelingt: Welches Abschneiden unserer Elf wäre für Sie noch akzeptabel?
Berthold: Der Einzug ins Viertelfinale muß der Mannschaft schon gelingen.
Sie selbst haben es bei der EM 1988 bis ins Halbfinale geschafft. Und anschließend immerhin im „kleinen Finale“ über Italien gesiegt.
Berthold: Ja, aber seien wir ehrlich, bei einer EM zählt der Titel oder zumindest im Finale zu stehen. Für Platz drei dagegen interessiert sich keiner.
Was war 1988 das Problem?
Berthold: Wir verloren knapp 2:1 gegen den kommenden Europameister, die Holländer, die den Titel schließlich holten. Sie waren an diesem Tag einfach besser – und man muß sagen, auch besser als Holland heute, denn einige ihrer Spieler damals zählten wirklich zur Crème de la Crème des Fußballs.
Dritter Platz bei einer EM, zweiter bei der WM 1986, 1990 Weltmeister – und das alles in nur vier Jahren: Davon können wir heute nur träumen! Warum war zu Ihrer Zeit der deutsche Fußball so viel stärker als heute?
Berthold: In den achtziger und neunziger Jahren gab es viele Weltklassespieler, diese Qualität ist uns schon lange abgegangen. Und der Bundestrainer kann nun mal nur fischen, was auch im Teich ist.
Wir haben keine Top-Spieler mehr?
Berthold: Doch, aber das Angebot ist überschaubarer geworden. Und bezüglich gewisser Positionen sollten wir uns endlich mal fragen: Warum entwickelt Deutschland keine Spitzenstürmer mehr, oder Spitzenverteidiger rechts und links?
Wie lautet die Antwort?
Berthold: Schauen wir in andere Länder, etwa Frankreich: Da gibt es zum Beispiel in der Nachwuchsförderung spezielle Stürmertrainer. Vor allem aber entwickeln die deutschen Vereine keine Spielerpersönlichkeiten mehr. Die einzige Ausnahme, die mir einfällt, ist der SC Freiburg, der die Philosophie verfolgt, Nachwuchsspieler in seine erste Mannschaft zu integrieren. Der Erfolgsdruck auf die Trainer ist sehr groß, und in der Regel werden Spieler mit Erfahrung bevorzugt, daher sind die Möglichkeiten, in der ersten Mannschaft zu spielen, für junge Spieler sehr gering. Ausgenommen der Leverkusener Florian Wirtz: Wie viele 18- bis 20jährige haben in den letzten 25 Jahren den Sprung von der U19-Mannschaft in die Bundesliga geschafft?
Aber haben wir nicht etwa mit Toni Kroos einen der ganz großen Spieler seiner Generation hervorgebracht?
Berthold: Sicher, aber Einzelfälle wie er oder Wirtz ändern nichts an der grundsätzlichen Frage, die ich Ihnen eben gestellt habe.
Auf die ich keine Antwort habe.
Berthold: Ich sage Ihnen, es sind sehr wenige.
Was ist der Grund dafür?
Berthold: Der Frage sollten wir uns endlich einmal widmen! Warum reicht die Athletik und Widerstandskraft der meisten jungen Spieler nicht mehr aus, um in der ersten Liga zu bestehen?
Sie meinen, sie bringen nicht die körperliche Voraussetzung mit?
Berthold: Ja, die Athletik und Widerstandsfähigkeit ist nicht mehr vorhanden. Und außer dem SC Freiburg erkenne ich, wie gesagt, keinen Verein, der erfolgreich Nachwuchsspieler entwickelt hat, stattdessen bedienen sich die anderen Vereine doch meist auf dem Transfermarkt. Und da es immer nur um kurzfristigen Erfolg geht, ist die Haltbarkeit von Trainern und Managern kurz. Welcher Verein kann da noch eine dauerhafte Spielphilosophie entwickeln? Denn meistens definiert die der Trainer, und kommt ein neuer, der eine andere hat, wird der Kader auf den Kopf gestellt und die Rotation der Spieler beginnt. Die Entwicklung von Nachwuchs spielt dann nur noch eine untergeordnete Rolle.
Aber es gibt doch ein DFB-Talentförderprogramm mit einem Netz aus 366 Stützpunkten sowie die 58 Nachwuchsleistungszentren der Vereine.
Berthold: Eben, und deshalb ist die Frage: Bleiben wir bei diesem Modell, bei dem die Vereine für viel Geld ein Nachwuchsleistungszentrum mit einer zweiten Mannschaft unterhalten? Oder macht man es vielleicht so wie einige größere, internationale Vereine mit Multiclub-Ownership, die Nachwuchsspieler im Ausland in einer höheren Liga spielen lassen, um sie durch Spielpraxis zu entwickeln. Denn Spielpraxis ist das entscheidende Element! Die nötige Athletik und Härte bekommt man nur durch sie, nicht durch Training. Und auch die Herausforderung des Wettbewerbsstresses kann man nur durch sie meistern: also zu lernen, trotz des Drucks volle Leistung zu entwickeln.
Aber bei uns spielt der Nachwuchs doch auch.
Berthold: Ja, aber wo? Nach meinem Wissen spielen ein oder zwei Zweitmannschaften in der dritten Liga, der Rest in der vierten: Und ich bitte Sie, das ist doch kein Wettbewerb!
Nochmal die Frage vom Anfang, ob unsere Elf in der Lage ist, „Begeisterung aufs Spielfeld zu bringen“, ob „man sieht, daß es für die Spieler etwas Besonderes ist, für die Nationalmannschaft aufzulaufen“? Das nämlich hat 2021 ihr früherer Kapitän Philipp Lahm gefordert.
Berthold: Es stimmt, das ist die richtige Haltung! Ich glaube, die ist bei dieser Elf gegeben. Und die Spieler wissen auch, was für eine besondere Gelegenheit es ist, eine EM im eigenen Land zu spielen. Das letzte Mal gab es die vor 36 Jahren, es ist also eine Chance, die man nur einmal im Leben bekommt. Die müssen wir jetzt nutzen!
Thomas Berthold spielte von 1985 bis 1994 in 62 Spielen, drei Weltmeisterschaften und einer Europameisterschaft für die deutsche Elf. 1986 wurde er Vizeweltmeister, 1990 Weltmeister und 1988 Sieger im „kleinen Finale“ der EM. Geboren 1964 in Hanau, begann er seine Bundesliga-Karriere 1982 bei Eintracht Frankfurt und kickte bis 2001 unter anderem für Bayern München, den AS Rom und den VfB Stuttgart, mit dem er 1997 den DFB-Pokal gewann.