Wir nennen den spitz zulaufenden kleinen Platz gegenüber nur noch „das Bermudadreieck“. Seit einigen Jahren hat es sich im Kiez etabliert, daß die Anwohner alte nicht mehr benötigte Gegenstände dort neben einem mittigen Elektrokasten abstellen. Und irgendwie ist es gelungen, daß dort auch wirklich nur heile, noch brauchbare Dinge landen und kein Schrott und Dreck. Das ist wohl der Grund, warum Schreibtische, Tretroller, Wasserkocher, Stühle, Geschirr, Regale, Bücher, Spielsachen und ähnliches meistens schon nach kürzester Zeit wie von Zauberhand verschwunden sind. Eine Offline-Tauschbörse.
Wir selbst haben schon Kinderbausteine in tipptoppem Zustand mitgenommen und ein gerahmtes Bild positioniert. Win-Win-Situation für den Kiez: die einen können aussortieren, die anderen gratis etwas Schönes oder Nützliches finden und sich daran erfreuen. Ein ressourcenschonender Kreislauf ohne Müll, teuren Konsum und unverschämte Entsorgungsgebühren. Staat, Stadt, Behörden und Bürokratie werden genausowenig gebraucht wie Datenkraken-Apps und -Internetseiten, auf denen Betrug und schlechter Umgangston zunehmen.
Der Kastenwagen mit rumänischem Kennzeichen nähert sich: Die werden jetzt doch wohl nicht?
Nur eines bleibt merkwürdig: Noch nie wurde ein Absteller oder Abholer bis auf einen selbst mit den eigenen Augen gesichtet. Bis jetzt. Laute turbofolkähnliche Musik kommt die Straße immer näher bis ein etwas heruntergekommener blaßroter Kastenwagen mit rumänischem Kennzeichen hält.
Zu den bummernden Bässen dröhnt Gequassel aus der Freisprechanlage. Der Fahrer scheint nebenbei noch zu telefonieren. Eine schwarzhaarige Frau in langem Rock steigt aus und läuft Richtung Fundgrube. Die wird doch wohl nicht – wie an vielen anderen Stellen in Berlin leider üblich – irgendeinen Unrat dort jetzt abladen und das nette, eigendynamisch gewachsene Nachbarschaftsprojekt gemäß der Broken-Window-Theorie kaputtmachen?
Aber falscher Alarm: Die Frau nimmt lediglich mit einem freudigen Lächeln im Gesicht das kleine abgestellte Sideboard und die Jalousien mit. Das Bermudadreieck ist wieder leer und freut sich auf neue Hinterlassenschaft.
Ich habe heute ein paar Blumen nicht gepflückt, um dir ihr Leben zu schenken.
Christian Morgenstern, Dichter und Schriftsteller, (1871–1914)