Den größten und letzten Liebesbeweis, den wir uns gegenseitig erweisen können, ist die Begleitung in den Tod. Das leise Streicheln über die Hände. Das liebevolle Betrachten und mit den Augen nachzeichnen der so wohlbekannten Falten um den Mund. Das Ordnen einzelner Haarsträhnen. Das Benetzen der trockenen Lippen. Das Aufschütteln des Kopfkissens. Die aufflammende Angst im Raum aushalten und das Ticken der Uhr ertragen. Über Monate, Wochen, Tage, Stunden oder nur noch Minuten. Um dann die Fenster zu öffnen. Es ist vollbracht. Und es wird auch bei einem selbst so sein – irgendwann. Der Tod macht das Leben rund. Ewiglich.
Doch in Deutschland war dieser letzte Liebesdienst verboten. Für Jahre. Über 310.000 Menschen mußten laut der von der Welt angeführten Zahlen des Instituts für das Entgeltsystem im Krankenhaus (InEK) einsam sterben. Mutterseelenallein ihre Todesängste tragen. Ohne Hilfe, ohne Beistand. Und die Hinterbliebenen? Sie leiden noch heute. Jeden Tag. Selbstzweifel und Vorwürfe und dieses Erleben der Hilflosigkeit einer menschenverachtenden Politik gegenüber, die ihr Leiden nicht wahrnehmen will. Niemals dürfen wir diese Unmenschlichkeit vergessen. In dieser Zeitung erzählen Hinterbliebene und Pflegepersonal von ihren Erfahrungen.
Helene Schwarz schaut aus dem Fenster ihres Pflegeheimes. In der Hand hält die 91jährige ein Telefon. Draußen steht ihre Tochter, spricht mit ihr und fotografiert sie dabei. Das Bild entstand im Mai 2020. Es zeigt den Isolationswahnsinn zu Zeiten der Corona-Hysterie. „Stellen Sie sich vor, ich bin 500 Kilometer zu meiner Mutter gefahren, nur um sie dann am Fenster zu sprechen“, sagt Gisela Müller (62) gegenüber der JUNGEN FREIHEIT. Sie meldete sich, wie so viele, auf einen JF-Aufruf, ihre Geschichte zu erzählen, auch anonym. „Sie können dabei gerne meinen Namen nennen, es ist mir, mit Verlaub, scheißegal geworden“, sagt die gelernte Köchin. Zwei Monate nach der Aufnahme, am 8. Juli, stirbt Helene Schwarz. „Ich möchte über den Tod meiner lieben Mutter sprechen, sie ist im Pflegeheim elendig zugrunde gegangen.“
Gisela Müller stammt aus Altenburg in Thüringen. „1989 ging ich in den Goldenen Westen, erst Solingen dann Düsseldorf, meine Eltern blieben in Altenburg. Ich nahm mir dann extra eine kleine Wohnung dort, um meine Eltern immer wieder zu besuchen und auch zu betreuen.“ Ihr Vater stirbt 2015. „Den habe ich gepflegt, konnte von ihm Abschied nehmen. Meine Mutter lebte weiterhin in Altenburg.“ Doch mit dem Alter kommen die Gebrechen. Zweimal stürzt ihre Mutter. „Beim ersten Mal erlitt sie einen Wirbelsäulenanbruch, beim zweiten Mal einen Oberschenkelhalsbruch. Der Arzt riet mir, meine Mutter ins Pflegeheim zu geben. Das war im November 2018.“
„Drei Bücher las sie pro Woche, und das noch bis März 2020“
Die alte Dame wird immer gebrechlicher. Ihr Herzschrittmacher soll in der Klinik versetzt werden. „14 Tage war meine Mutter in der Quarantäne, ich durfte sie nicht besuchen.“ Gisela Müller will ihre Mutter unbedingt aus dem Heim rausholen, sie mietet ein Appartement im Betreuten Wohnen. „Da rief mich das Heim an. Die Schwester sagte: ‘Wissen Sie denn nicht, daß ihre Mutter dement ist?’ Nein, daß wußte ich nicht“, sagt Gisela Müller. Ihre Mutter liebte es zu lesen. Auch im Heim gibt sie ihr Hobby nicht auf. „Drei Bücher las sie pro Woche“, erinnert sich ihre Tochter, „und das noch bis März 2020.“ Auf Anraten des Heimes macht Gisela Müller alles wieder rückgängig.
Ende Mai stellen Ärzte starke Wassereinlagerungen bei Helene Schwarz fest. „Ich bin wieder nach Altenburg. Zum ersten Mal durfte ich meine Mutter nach Wochen wieder besuchen. In Schutzanzug und Maske“, erinnert sich Gisela Müller. „Wenn Sie ihre Mutter berühren, müssen Sie sofort das Heim verlassen, sagte eine Pflegerin zu mir.“ Zwischen Mutter und Tochter hatte das Heim zur Sicherheit noch eine Plexiglasscheibe aufgebaut.
Mitte Juni fragt ein behandelnder Arzt die Tochter: „Wollen, Sie daß wir ihrer Mutter helfen oder daß sie lebt?“ „Sie sollten ihr helfen“, sagt die Tochter. „Meine Mutter nahm immer mehr ab. Zum Schluß wog sie noch 38 Kilo, bei einer Größe von 1,58 Metern. Am 8. Juli durfte sie dann gehen.“ Es ist ein Mittwoch. Doch damit endete das Drama keineswegs. „Als wir ihre Sachen abholen wollten, hatte das Personal alles in blaue Müllsäcke gepackt und in den Lieferanteneingang gestellt. Auf der Straße lag die Beileidskarte.“ Nach dem Willen ihrer Eltern ließ Gisela Müller ihre Mutter verbrennen. Ihre Eltern liegen gemeinsam auf einem anonymen Gräberfeld. Zum Abschluß sagt sie: „Es ist verachtenswert, was in diesem Land passiert ist. Ich vergesse nicht und verzeihe nicht.“
Senioren, die am Fenster saßen, total einsam und nur rausschauten
„Ich muß anonym bleiben“, sagt eine Frau (49) am Telefon – und das ist verständlich. Sie ist Altenpflegerin. „Das Bild, das ich niemals vergessen werde, das sind die alten Menschen, die am Fenster saßen, total einsam, und rausschauten. Und sie stellten alle dieselbe Frage: „Warum kommen meine Kinder nicht?“ Die Vorgaben und Auflagen für die Besucher, wie auch für das Personal sind immens. „Ich habe zu keiner Zeit soviel geschrieben wie in dieser Zeit. Der Verwaltungsaufwand war enorm.“
Doch auch einfachste Handreichungen wurden zum Staatsakt. „Wir brachten den Bewohnern das Essen total vermummt in einem Karton ins Zimmer. Den stellten wir auf den Tisch und gingen. Man muß sich das vorstellen: Die Bewohner sahen nur Totalvermummte. Manchmal kniete ich einfach vor dem Bett, in dem sie lagen oder dem Rollstuhl, in dem die Menschen saßen, und dann haben wir gemeinsam geweint, und natürlich haben wir versucht, die Händchen zu halten.“
Auf einer Station mit 44 Patienten und einem Pfleger und zwei Helfern nehmen allein diese Sekunden viel kostbare Zeit. Irgendwann, so erinnert sich die Pflegerin, zog auf die Station eine Patientin, die erblindet war. Sie war wundgelegen, hatte einen Schlaganfall, bekam gegen die Schmerzen Morphium. Sie lag im Sterben. Ihr Sohn hatte keine Besuchserlaubnis, denn er war nicht geimpft. „Da habe ich ihn einfach auf die Station geschmuggelt. Erst über den Wäscheaufzug, dann über die Feuertreppe. Ein paar Kollegen bekamen es mit, beschwerten sich bei der Chefin, aber es blieb unter uns. Es war klar, daß die Frau noch am selben Tag sterben würde. Ihr Sohn blieb, bis sie eingeschlafen war. Dann brachte ich ihn auf demselben Weg wieder von der Station.“
Die Einschränkungen durch die Politik, die Vorgaben, bis hin zum Lockdown kamen schleichend. „Wir haben das ja teils gar nicht so in Erinnerung mehr. Die Zeitabläufe. Wir, also das Personal, mußten uns täglich testen lassen. Vor dem Heim hatte die Bundeswehr ein Zelt aufgebaut. Teils rammten die einem die Wattestäbchen gefühlt bis ins Hirn rein. Einen fuhr ich mal an: Noch einmal, mein Junge, und dann singst du den Großen Zapfenstreich.“ Was die gelernte Krankenschwester bis heute wundert: „Viele Menschen glaubten den Medien und der Politik, ohne zu hinterfragen.“
Ihre Kolleginnen, auch sie selbst, riefen bei Fernsehsendern, in den Redaktionen der Talkshows an. „Wir wollten schildern, wie es bei uns ist, was die Menschen durchmachen. Daß die Intensivabteilungen nicht so voll sind, wie behauptet, und daß viele alte Menschen nach der Impfung sterben. Wir bekamen zwar Rückrufe, unsere Darstellungen wollte aber keiner hören.“ Es ist ein bitteres Resümee, das die mutige Frau zieht: „Es war die grausamste Zeit meines Lebens. Und ich verzeihe dieser Regierung nichts.“
Foto: Helene Schwarz darf nur via Telefon mit ihrer Tochter sprechen: Zwei Monate vor ihrem Tod, Hinterlassenschaften von Verstorbenen