Am 10. Dezember 1971, sechsundzwanzig Jahre nach dem Ende der deutschen Besatzungsherrschaft in Norwegen, erhielt Willy Brandt in Oslo den Friedensnobelpreis. Ausgezeichnet wurde der Bundeskanzler und SPD-Politiker für seine „auf Versöhnung ausgerichtete Ostpolitik“. Tags darauf nutzte Brandt die Ehrung, um mit einem Vortrag für eine kopernikanische Wende im Denken über internationale Beziehungen zu werben: Es gehe künftig um nicht weniger als darum, „Kriege abzuschaffen“. Krieg sei nicht länger Ultima ratio, sondern Ultima irratio.
Von diesem pazifistischen Fundamentalismus sind Generationen sozialdemokratischer und grüner Politiker geprägt worden. Auch ein „Enkel“ Brandts, der amtierende Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD), der von sich sagt, er stamme aus der Friedensbewegung. Und ausgerechnet ihm, so weist Marco Seliger, sicherheitspolitischer Redakteur im Berliner Büro der NZZ, auf diese Ironie der Geschichte hin, sei es angesichts des Ukraine-Kriegs zugefallen, von den Deutschen „Kriegstüchtigkeit“ zu verlangen. Sollen sie sich doch an die Gefahr eines Krieges gewöhnen, der Europa drohen könne. Gesellschaft und Armee müßten daher „wieder wehrhaft werden“.
Dies setze aber einen radikalen Bewußtseinswandel voraus, dessen Dimension sich nur klarmache, wer das Idealbild einer Bundeswehr vor Augen habe, wie es die „Eliten“ seit 1990 zeichneten. Darin kamen Soldaten im Auslandseinsatz nur vor als bewaffnete Entwicklungshelfer mit zivilem Selbstverständnis. Noch die abstrusesten Ansichten fanden in dieser Debatte über die „neue Identität“ der Streitkräfte Gehör. Wie die These einer Theologin, einer demokratischen Armee könnten militärische Tugenden keinen Sinn mehr vermitteln, sie sollten daher durch das „zivil-humanitäre Ethos“ ersetzt werden. Selbst der Direktor der Führungsakademie der Bundeswehr entblödete sich während der Hochzeit des Afghanistankriegs nicht, vor dem „überzeitlichen Ideal des Kämpfertums“ zu warnen, weil es mit dem zivilgesellschaftlichen Wertekanon nicht vereinbar sei.
Kein Wunder, so Seliger in der Zweimonatsschrift „für Politik, Gesellschaft, Religion und Kultur“ der Konrad-Adenauer-Stiftung (Die Politische Meinung, 1/2024), daß es bei einer derart fest verankerten, den Kern des Militärischen negierenden Grundhaltung heute mit Wehrbereitschaft und Kriegstüchtigkeit nicht weit her sei. Nur im internationalen Vergleich erbärmliche 29 Prozent der nach dem 24. Februar 2022 befragten Deutschen waren nach ukrainischem Vorbild bereit, ihr Land mit der Waffe zu verteidigen.
Wesentlich zu dieser Wirklichkeitsflucht hätten vor allem links-grüne Politiker wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier beigetragen, in deren antideutscher Selbsthaßrhetorik der Nationalstaat nur als „Vorläufer des Krieges und des Holocaust“ figuriere. Für ein von Steinmeier reduziertes Deutschland, das nicht mehr sei als eine blutleere Verfassung und ihre abstrakten „Werte“, setze aber niemand den Stahlhelm auf und ziehe in den Krieg.