© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/24 / 07. Juni 2024

Sturm auf die Festung Europa
Vor achtzig Jahren eröffneten die Alliierten mit der Landung in der Normandie eine zweite Front / Hartnäckige Widerstände der deutschen Truppen
Dag Krienen

Als einige französische Jugendliche am Morgen des 6. Juni 1944 aus der Stadt Caen in der Normandie, angelockt vom Geräusch von Geschützfeuer, mit dem Fahrrad in Richtung Strand fuhren, erblickten sie ein Meer von Schiffen vor der Küste. Ihnen war sofort klar, daß die erwartete Landung der Alliierten in Westeuropa begonnen hatte. Und sie waren sich einig, daß nun die „Boches“ erledigt seien – womit sie mittelfristig recht behalten sollten.

Nach dem Eintritt der USA in den Krieg Ende 1941 war Präsident Franklin D. Roosevelt zu einer Landung in dem von den Deutschen besetzten Frankreich entschlossen. Der britische Premier Winston Churchill bevorzugte zwar eine Invasion im Balkanraum, mußte sich aber am Ende dem amerikanischen Druck beugen. Anfang 1943 richteten Briten und US-Amerikaner einen Planungsstab zur Vorbereitung einer Großlandung in Nordwestfrankreich im Frühjahr 1944 ein.

Die alliierte Invasionsflotte bestand aus etwa 5.300 Schiffen

Für die bald als „Operation Overlord“ bezeichnete Invasion stellten Briten, Kanadier und Amerikaner in Großbritannien eine riesige Streitmacht von 39 Divisionen bereit, von denen fünf Infanterie- sowie drei Luftlandedivisionen gleichzeitig am ersten Tag anlanden sollten. 11.000 Flugzeuge standen für die Unterstützung der Truppen und für die Sicherung der Invasionsflotte zur Verfügung. Diese bestand aus 5.300 Schiffen aller Bauarten, darunter sieben Schlachtschiffe, 23 Kreuzer, 105 Zerstörer und 1.073 kleinere Kriegsschiffe, die die deutschen Stellungen massiv unter Feuer nehmen und die Landungsschiffe und Nachschubtransporter schützen sollten. 

Die Deutschen erwarteten schon länger eine Großlandung der Alliierten in Westeuropa. In Frankreich, Belgien und den Niederlanden stationierten sie eine auf den ersten Blick recht ansehnliche Streitmacht, die Anfang Juni 1944 aus 60 Divisionen bestand. Sie unterstand dem Oberbefehlshaber West, Generalfeldmarschall Gerd von Rundstedt, wobei für die Verteidigung der Kanalküste Heeresgruppe B unter Generalfeldmarschall Erwin Rommel verantwortlich war. Von diesen sechzig Verbänden waren allerdings nur elf Panzer- und motorisierte Divisionen. Die Infanteriedivisionen hingegen bestanden größtenteils aus älteren Soldaten und waren meist nur eingeschränkt verwendungsfähig, 24 waren sogar „bodenständig“, das heißt sie besaßen nicht genug Fortbewegungsmittel, um ihre Stellung wechseln zu können. Mit den bestens mit Menschen und Material ausgestatteten allliierten Divisionen waren sie in keiner Weise zu vergleichen. 

Wo und wann genau die Invasion erfolgen würde, konnten die deutschen Nachrichtendienste nicht herausfinden. Die Truppen wurden entlang mehrerer tausend Kilometer französischer Küste verteilt, mit dem Schwerpunkt am Pas de Calais. Dort erreichte auch der seit 1942 gebaute „Atlantikwall“, der aus Artillerie- und Infanteriebunkern, Minenfeldern und Sperrhindernissen am Strand bestand, seine größte Stärke. In der Normandie selbst standen am Invasionstag nur die 21. Panzerdivision sowie fünf schwache Infanteriedivisionen, drei davon „bodenständig“, zur Verfügung.

Am 5. Juni gab der alliierte Oberbefehlshaber der Invasionsstreitkräfte, US-General Dwight D. Eisenhower, den Befehl zum Beginn des Unternehmens „Overlord“, des größten amphibischen Angriffs der Geschichte. Am Morgen des 6. Juni gingen amerikanische, britische und kanadische Truppen an fünf Stellen an den Stränden der Normandie an Land. Im Abschnitt Omaha stießen die US-Infanteristen auf heftige Gegenwehr und erlitten starke Verluste. Hier konnten sie sich nur mühsam am Küstensaum festkrallen. Im westlichsten Abschnitt „Utah“ an der Basis der Halbinsel Contentin, wo sie in der Nacht in großen Mengen Fallschirmjäger im Hinterland abgesetzt hatten, konnten die US-Amerikaner hingegen ohne schwere Verluste fast das Tagesziel erreichen. In den drei britischen und kanadischen Abschnitten gelang zwar die Anlandung zunächst reibungslos, doch wurden die Tagesziele dort nirgendwo erreicht. Insbesondere die Einnahme der Stadt Caen gelang nicht. Die Gegenstöße der 21. Panzerdivision wurden andererseits von der undurchdringlichen Feuerglocke der schweren Artillerie der Kriegsschiffe aufgehalten. 

Deutsche Versuche, den alliierten Nachschub zu stören, hatten in der Folgezeit wenig Erfolg. Die Stärke der deutschen Luftwaffe im Westraum betrug am Invasionstag 120 einsatzfähige Jäger, 36 Jagd- und 150 Nachtbomber. Sie verlegte zwar ab dem 7. Juni eine große Zahl an Jagdgruppen an die Invasionsfront, verheizte diese aber ohne größere Erfolge bei Jagdbombereinsätzen. Die Kriegsmarine verfügte im Kanal über fünf Torpedoboote und 39 Schnellboote sowie rund 280 Minensuch- und Vorpostenboote. Von ihnen kamen aber fast nur die Schnellboote gelegentlich zu Erfolgen gegen die alliierten Transport- und Landungsschiffe, für die die Seeminen die größte Bedrohung waren und blieben.

Die massiven Zerstörungen der Verkehrswege durch die alliierten Bomber vor und während der Invasion erschwerten die Zuführung von Nachschub und Verstärkungen für die deutschen Bodentruppen. Auch Rommel wurde am 17. Juli bei einem Luftangriff schwer verwundet, der Befehl über die Heeresgruppe B von Generalfeldmarschall Hans Günther von Kluge, seit dem 7. Juli schon OB West, übernommen. Aufgrund der nahezu absoluten alliierten Luftherrschaft waren Verlegungsmärsche nur in den kurzen Nächten durchführbar. Die Deutschen konnten deshalb in der Normandie ihre Reserven nie geschlossen zu kraftvollen Gegenangriffen einsetzen und verloren immer mehr den Wettlauf im Zuführen von Verstärkungen. 

Doch leisteten ihre oft zusammengewürfelten und rasch verschleißenden Divisionen lange Zeit erbittert Widerstand. Die Alliierten erreichten bis zum 25. Juli erst eine Linie, die sie ursprünglich schon am fünften Tag nach der Landung hatten einnehmen wollen, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt an der Invasionsfront schon über 1,4 Millionen gegenüber knapp 400.000 deutschen Soldaten verfügten. Insbesondere Caen war heftig umkämpft, weil hier der Durchbruch in freies Gelände winkte. Doch dieser gelang den Briten und Kanadiern trotz wiederholter Anläufe nicht.

Den entscheidenden Erfolg erzielten die Amerikaner im Westen der Invasionsfront. Nachdem 2.000 Bomber einen sieben mal drei Kilometer großen Abschnitt mit einem Bombenteppich umgepflügt hatten, konnten sie am 25. Juli bei Avranches einen tiefen Einbruch erzielen und bis zum Monats­ende endgültig in freies, unverteidigtes Gelände durchbrechen. Die Deutschen versuchten am 6. August noch, durch einen Vorstoß ihrer Panzer die durchgebrochenen US-Amerikaner von ihren rückwärtigen Verbindungen abzuschneiden. Doch ließen massive alliierte Luftangriffe den Angriff scheitern. Die fast unbehindert operierenden Amerikaner ihrerseits umfaßten die deutschen Verteidiger von Süden her und kesselten sie am 19. August bei Falaise ein. Diesen gelang es zwar noch, einen schmalen Korridor freizukämpfen, so daß rund 40.000 Mann entkommen konnten. Ein Großteil der Panzer, Fahrzeuge und Geschütze ging jedoch verloren, 50.000 Mann gerieten in Kriegsgefangenschaft.

An kampfkräftigen Verbänden standen dem OB West, seit am 19. August OB Generalfeldmarschall Walter Model, nur noch 13 Infanterie und drei Panzerdivisionen sowie zwei Panzerbrigaden zur Verfügung. Die Deutschen zogen sich zunächst hinter die Seine zurück. Am 25. August rückten freifranzösische Truppen in Paris ein, wo der deutsche Stadtkommandant Generalleutnant Dietrich von Choltitz die von Hitler befohlenen umfangreichen Zerstörungen nicht durchgeführt hatte. Die Alliierten stießen danach rasch weiter vor und befreiten bis Mitte September das restliche Frankreich sowie auch Belgien. Zum Stehen kamen sie erst an der Reichsgrenze aufgrund wachsender eigener Nachschubprobleme, schlechter werdenden Wetters und der Rekonsolidierung der deutschen Truppen. 

Als am 15. August US-amerikanische und freifranzösische Truppen in Südfrankreich landeten (Operation Dragoon), bewilligten OKW und Hitler schon am Folgetag den Rückzug. Ein großer Teil der Truppen aus Südfrankreich und von der Atlantikküste erreichten bis Mitte September die neue deutsche Westfront an den Vogesen. Die Deutschen verloren bis Ende August in Nordwestfrankreich nahezu 200.000 Tote und Verwundete sowie gut 200.000 Kriegsgefangene. In den „Festungen“ an der Küste, die unbedingt gehalten werden sollten, gerieten zudem viele Soldaten später in Gefangenschaft oder blieben in La Rochelle, St. Nazaire und Lorient an der Atlantikküste sowie in Dünkirchen und auf den Kanal-Inseln bis Kriegsende eingekesselt zurück. Insgesamt dreißig deutsche Divisionen mußten aufgelöst werden. Darunter befanden sich allerdings keine Panzerdivisionen, wenn auch viele von ihnen stark abgekämpft waren und einer gründlichen Auffrischung bedurften. Der größte Teil sowohl der Personal- als auch der Materialverluste trat nach dem Ausbruch der Alliierten aus der Normandie ein: so verzeichnete die Wehrmacht im Juni und Juli im Westen den Ausfall 500 von Panzern und Sturmgeschützen, bis Mitte September hingegen den Abgang von weiteren 1.700 Stück.

Der Zweifrontenkrieg zehrt die deutschen Kräfte endgültig auf

Die erfolgreiche Invasion verschlechterte die strategische Lage des Reiches erheblich. Die Wehrmacht hatte nicht nur einen wichtigen Ruheraum verloren, in dem an anderen Fronten abgekämpfte Verbände wieder aufgefrischt und neue aufgestellt werden konnten. Vor allem war sie nun gezwungen, laufend einen Zweifrontenkrieg in Ost und West zu führen, in dem ihre Truppen einem beständigen Prozeß der personellen und materiellen Auszehrung gegen weit überlegene Gegner unterlagen. Die vagen Hoffnungen Hitlers und der Generäle, durch eine erfolgreiche Abwehr einer Invasion im Westen wieder Kräfte für den Krieg im Osten frei zu bekommen und so die strategische Lage Deutschlands wieder verbessern zu können, blieben unerfüllt. 

Die Verluste in den Invasionskämpfen in Nordwestfrankreich waren auch auf feindlicher Seite hoch gewesen, konnten aber von diesen relativ leicht ersetzt werden. Die Alliierten Verluste betrugen dort bis Ende August 210.000 Mann, davon 55.000 Tote und Vermißte. Außerdem wurden in den 4.100 verlorenen Flugzeugen nahezu 17.000 Angehörige ihrer Luftstreitkräfte getötet. 

Nicht zuletzt zahlte auch die französische Bevölkerung einen hohen Preis für ihre Befreiung. Bis zu 19.000 Zivilisten fielen den vorbereitenden Bombardements auf französische Städte und Infrastruktur oder vor der Invasion zum Opfer, bis zu 20.000 den Kämpfen und Bombardements danach.