© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/24 / 07. Juni 2024

Acht Punkte auf dem Weg zu einer krisenfesten Bundeswehr
Auf der Suche nach einer Armee
Rüdiger Lucassen

Boris Pistorius ist der vierte Ressortchef, dem ich als verteidigungspolitischer Sprecher meiner Fraktion im Verteidigungsausschuß gegenübersitze. Und das vierte Mal werde ich nun Zeuge eines politischen Rituals, das die Probleme der Bundeswehr nicht lösen wird, stattdessen aber wertvolle Zeit verschwendet. Das Ritual besteht aus vier Phasen.

In Phase eins nutzt der Neue die Erwartungshaltung der Öffentlichkeit an seine Person und das Scheitern seines Vorgängers. Es riecht nach Neuanfang. Wieder einmal. Die ersten Wochen bewegt sich der „Hoffnungsträger“ ausschließlich auf politisch sicherem Terrain. Er wertschätzt „die Arbeit der Soldatinnen und Soldaten“, „gewinnt viele Eindrücke“ und führt „unglaublich viele Gespräche“. Probleme gibt es nicht, nur „Herausforderungen“. Kritik am Vorgänger gibt es auch nicht, der Elefant im Raum ist ohnehin groß genug. Keiner muß den Scherbenhaufen benennen. 

In Phase zwei werden Kommissionen aufgestellt. Wenn der Neue Kommissionen nicht modern genug findet, gibt es Task Forces, Innovation Hubs oder Boards. Das simuliert Handeln. Presse und Parlament sind befriedigt. Denn jetzt gehöre es sich, „die Ergebnisse dieser Gremien abzuwarten“. Zeitgewinn für den neuen Minister: Vier bis sechs Monate. Jede Nachfrage im Verteidigungsausschuß wird mit dem Hinweis auf die baldigen Ergebnisse der Arbeitsgruppen nicht beantwortet. 

Phase drei beginnt, sobald die Ergebnisse vorliegen. Pressekonferenz des Ministers vor der Truppe. Zeitgleiche Veröffentlichung im Spiegel. Der Verteidigungsausschuß bekommt die Ergebnisse erst im Anschluß. Dennoch, so versichert der Minister in der darauffolgenden Ausschußsitzung, habe man selbstverständlich den höchsten Respekt vor dem Parlament. 

Die Namen der ministeriellen Papiere sind langweiliger Polit-Sprech. Ursula von der Leyen gab die „Trendwenden“ und eine „Agenda Attraktivität“ heraus. Annegret Kramp-Karrenbauer machte sich „Gedanken zur Bundeswehr“ und legte ein „Eckpunktepapier zur Strukturreform“ vor. Ihre Nachfolgerin, Christine Lambrecht, präsentierte ihre eigenen „200 Reformvorschläge“. Der aktuelle Verteidigungsminister gab jüngst den „Osnabrücker Erlaß“ heraus. Benannt nach der Stadt, in der Pistorius einmal Bürgermeister war. Damit hat er Phase drei abgeschlossen. 

Das neunseitige Dokument ist so konsequent gegendert, daß es selbst der Leitungsebene im BMVg nicht gelungen ist, ein grammatikalisch unbelastetes Papier vorzulegen. Die penetrante Verwendung beider Geschlechtsformen läßt die Grammatikfehler jedoch als das geringste Problem erscheinen. Doch schon die äußere Form des „Osnabrücker Erlasses“ steht dem Bekenntnis zur „Kriegstüchtigkeit“ diametral entgegen. Soldaten sprechen so nicht.

Inhaltlich steht Boris Pistorius mit seinem „Osnabrücker Erlaß“ ebenfalls in der Tradition seiner Vorgängerinnen. Die Neuerungen bewegen sich alle auf der mittleren administrativen Ebene. Es gibt Verschiebungen in der Verantwortlichkeit, Umbenennungen und Neuaufstellungen. Viele Ankündigungen sind altbekannt und bereits in Vorgängerdokumenten vorgeschlagen worden. Sie haben aber nicht das Potential, um die mangelnde Verteidigungsfähigkeit unseres Landes zu beseitigen. Dafür bräuchte die Bundeswehr tatsächlich den großen Wurf. Doch zunächst fehlt noch Phase vier im Leben eines deutschen Verteidigungsministers.

Mit der Veröffentlichung seines Erlasses hat auch Boris Pistorius nun den politischen Zenit erreicht. Ab jetzt setzt für ihn als Politiker eine Seitwärtsbewegung ein, mit erheblichem Potential nach unten. Denn die vorgelegten Reformentscheidungen und die Erwartungshaltung der Öffentlichkeit bewegen sich auf zwei Parallelen. Dort die gewaltigen Probleme einer nicht einsatzbereiten Bundeswehr und auf Pistorius’ Papier das Klein-Klein seiner Ministerialbürokratie. Gegen den Erlaß gab es keinerlei Einspruch der Personalvertretungen im Verteidigungsministerium. Ein starkes Indiz, daß Pistorius ein weiteres Stillstands-Papier vorgelegt hat.   

Die Probleme der Bundeswehr sind nicht mehr durch das Drehen an Stellschrauben zu lösen. Die Bundesregierung muß eine Armeereform großen Kalibers starten, wenn sie es mit der Verteidigungsbereitschaft Deutschlands ernst meint. Der Krieg um die Ukraine zeigt das gesamte Spektrum der heutigen Kriegsführung. Es reicht von neuen innovativen Gefechtsarten, wie dem massenhaften Einsatz von Drohnen, bis zu archaischen Formen des Grabenkampfes. Will die Bundeswehr in einem Waffengang vergleichbarer Art bestehen können, muß Deutschlands Regierung ein nationales Acht-Punkte-Programm auflegen, um unsere Streitkräfte dafür zu ertüchtigen. 

Erstens, die sofortige Reaktivierung der Wehrpflicht: Der Versuch einer Freiwilligenarmee ist gescheitert. In keinem Jahr seit Aussetzung der Wehrpflicht 2011 waren genug junge Deutsche bereit, Dienst in der Bundeswehr zu leisten. Experten warnen vor den enormen Hürden bei der Umsetzung. Sie haben recht. Es fehlen Kreiswehrersatzwesen, Kasernen und Ausbilder. Und doch muß der Schritt so schnell wie möglich gegangen werden. Ohne genügend Personal wird es keine verteidigungsfähige Bundeswehr geben, die im Kriegsfall zur Landesverteidigung aufwachsen kann. 

Zweitens, die Schaffung einer modernen Gesamtverteidigung: An die Stelle eines direkten Angriffs auf Deutschland sind eine Vielzahl hybrider Angriffsoptionen getreten, die unterhalb der Schwelle eines offenen Kriegs liegen. Die Sprengung der Ostsee-Pipeline 2022 zeigte, was möglich ist. Zur Abwehr solcher verdeckten Angriffe muß ein Großteil der Behörden in einen Plan zur Gesamtverteidigung eingebunden werden. Das gesellschaftliche Bewußtsein des Kalten Krieges kann dafür ein Anhalt sein. Deutschland muß sich zum Beispiel auf den Schutz seiner kritischen Infrastruktur konzentrieren, nicht mehr auf den Bau von flächendeckenden Bunkeranlagen. 

 Drittens, der Schutz Deutschlands als militärische Drehscheibe in Europa: In einem Krieg wäre Deutschland nicht mehr Frontstaat, sondern rückwärtiges Gebiet. Diese Lageänderung erfordert neue Abwehrstrategien. Als Umschlagplatz und logistische Drehscheibe wird Deutschland Primärziel von Waffen der dritten Dimension. Die Abwehrfähigkeiten gegen Raketen, Marschflugkörper, Hyperschallwaffen und Drohnen muß für diesen Fall von Grund auf neu konzipiert werden. Zudem ist schon heute die Abwehr von Spionage, Zersetzung und Sabotage gefährlich unterentwickelt.

Viertens, Deutschland muß die militärische Innovations- und Technologiefeindlichkeit im zivilen Sektor überwinden: Die Bundeswehr muß siegfähig werden. Der Anspruch Deutschlands kann es nicht sein, auf dem militärisch teils einfachen Niveau des Ukraine-Kriegs durchzuhalten. Der enormen Bedeutungssteigerung bei der Drohnentechnologie, der Elektronischen Kampfführung (EloKa), im Quantencomputing und in der Künstlichen Intelligenz (KI) kann nur durch eine umfassende Kooperation mit der Wirtschaft und zivilen Forschungseinrichtungen Rechnung getragen werden. Verteidigungsbereitschaft ist nicht nur Aufgabe des Militärs.  

Fünftens, die Erhöhung des Verteidigungsbudgets auf 75 Milliarden pro Jahr: Bereits im Bundeshaushalt 2025 kommt es zur Nagelprobe. Pistorius will bis zu zehn Milliarden mehr. Seine eigene Fraktion ist dagegen. Die 100 Milliarden des sogenannten Sondervermögens sind verplant. Läuft das bestellte Großgerät zu, werden die Kosten für Betrieb und Instandhaltung ungeahnte Höhen erreichen. Doch die Sicherheit und Unabhängigkeit Deutschlands sind Grundlage für das Bestehen aller staatlichen Strukturen und die Legitimität des Staates an sich. Das Steuergeld für eine schlagkräftige Bundeswehr ist nicht vergeudet, sondern die Voraussetzung für politischen und gesellschaftlichen Erfolg unseres Landes. Die Finanzierung einer siegfähigen Bundeswehr wird nur zu Lasten der Ausgaben für EU, Migration, Klima und Soziales sichergestellt werden können. Die Bundesregierung muß diese Wahrheit rechtzeitig populär machen. Rüstung ist teuer. Ein verlorener Krieg unbezahlbar. 

Sechstens, die Modernisierung der Ausrüstung: Deutschland muß nicht alle Entwicklungen nachvollziehen und nachspielen, idealerweise ist das Überspringen von Phasen, deren Zeit vorüber geht, sowie eine konsequente Orientierung an Fähigkeiten wie Robotik, Drohnen usw., der richtige Weg, um Technologiesprünge zu vollziehen. Der Ukrainekrieg lehrt uns, daß eine archaische Kampfweise nicht mehr das Mittel der Wahl sein kann.

Siebtens, die Schaffung eines Reservistenkorps: Jenseits der allgemeinen Reserve braucht die Bundeswehr ein gekadertes Reservistenkorps, um die zusätzlichen Aufgaben in der Gesamtverteidigung bewältigen zu können. Dieses Reservistenkorps sollte eine Stärke von 50.000 Soldaten umfassen und in regelmäßigen Übungen das gesamte militärische Leistungsspektrum, analog zu einer amerikanischen Nationalgarde, abdecken. 

Achtens, die geistig-moralische Wende: Leistungsfähige und zur Landesverteidigung befähigte deutsche Streitkräfte können im Kriegsfall nur erfolgreich sein, wenn das geistig-moralische Fundament unseres Landes ihre herausragende Aufgabe trägt. Jede Maßnahme zur Wiederherstellung der Einsatzbereitschaft, sei sie auch noch so umfassend, wird ohne eine starke Verbindung der Soldaten zu Land und Nation nicht erfolgreich sein können. Den Befund, daß es mit diesem Fundament in Deutschland schlecht bestellt ist, teilen vermutlich viele Leser dieser Zeitung. Es wird eine gesamtstaatliche Generationenaufgabe sein, dies zu ändern. Doch will ich meinen Beitrag keineswegs mit einem „Appell an alle“ schließen. Denn für große Dinge reichen oft schon einige Wenige. Es müssen nur die Richtigen sein.  



Rüdiger Lucassen, Jahrgang 1951, Oberst a.D. der Bundeswehr und Unternehmer, gehört seit 2017 dem Deutschen Bundestag an. Dort ist er verteidigungspolitischer Sprecher der AfD-Fraktion.