© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/24 / 07. Juni 2024

Außenposten der Hölle
Ausstellung in Paris: Eine Sammlung von Opfergaben und Kunstwerken spiegelt die Mexica, oft als Azteken bezeichnet
Karlheinz Weißmann

Die Eroberung Mexikos durch Hérnan Cortés in den Jahren 1519 bis 1521 gehört zu den Schlüsselereignissen der europäischen Expansion. Das gilt nicht nur wegen der kleinen Zahl der Konquistadoren, die ein fremdes Imperium mit riesigen Ressourcen niederwarfen, sondern auch weil hier nicht „Zivilisierte“ auf „Primitive“ trafen, sondern Vertreter einer Hochkultur auf Vertreter einer anderen Hochkultur. Eine Tatsache, die den Spaniern durchaus bewußt war, angesichts der großartigen Gebäude und der schnurgeraden Straßen der Hauptstadt Tenochtitlán, der erlesenen Kunstwerke und des Goldreichtums, die allerdings ihre Verstörung kaum minderte, nachdem sie mit der religiösen Praxis der Einheimischen konfrontiert wurden. Die fratzenartigen, mit Fangzähnen bewaffneten oder als groteske Mischwesen dargestellten Götter waren eine Sache, die große Zahl der Menschenopfer eine ganz andere. Mancher glaubte, auf einen Außenposten der Hölle getroffen zu sein.

Die brutale Eroberung des Landes und die Methoden der spanischen Herrschaft haben in der Folge allerdings den Verdacht genährt, daß man es bei den Schilderungen mit Propaganda zu tun habe, oder mit haltloser Übertreibung, um die eigenen Massaker, die Ausbeutung der Ureinwohner, den Goldraub und die Zwangsmission zu rechtfertigen. Eine Einschätzung, die heute vom allgegenwärtigen Verdacht gegen den „kolonialen Blick“ nur zu gern aufgegriffen wird.

Die Kriegergesellschaft beruhte auf einer strengen Hierarchie

Um so dankbarer muß man sein, wenn Archäologie und historische Forschung zur Klärung der Sachlage beitragen. Das geschieht in erheblichem Maß durch französische Wissenschaftler, die seit Jahren an den Ausgrabungen beteiligt sind, bei denen unter dem heutigen Mexico City die Ruinen des vorkolonialen Tenochtitlán freigelegt werden. Dabei konzentriert man sich auf die Bergung der Überreste des Haupttempels, die jetzt mit wichtigen Stücken in einer Ausstellung des Pariser Musée du Quai Branly gezeigt werden.

Ursprünglich war der Haupttempel eine Stufenpyramide, die sich über einer Grundfläche von 78 mal 84 Metern erhob und vor der Zerstörung durch die Spanier eine Höhe von 45 Metern maß. Eine nach Süden ausgerichtete „Kapelle“ diente der Verehrung Huitzilopochtlis, des Gottes der Sonne und des Krieges, eine nach Norden ausgerichtete der Verehrung Tlálocs, der Regengottheit. Die ganze Anlage wurde als Abbild eines mythischen „Berges der Schlangen“ betrachtet, der den Mittelpunkt der Urheimat Aztlán jenes Volkes bildete, das wir als „Azteken“ zu bezeichnen gewohnt sind. Der Name wurde allerdings erst durch Alexander von Humboldt etabliert. Sie selbst nannten sich „Mexica“ und drangen während des 14. Jahrhunderts in das Tal von Mexiko ein.

Es handelte sich, wie in der Ausstellung betont wird, um eine Kriegergesellschaft, die auf einer strengen Hierarchie beruhte. Deren Basis bildete eine Sklavenschicht, gefolgt von Bauern, Handwerkern, Händlern und Adligen, während an der Spitze Sakralkönige standen. Zu deren wichtigen Funktionen gehörte die Aufrechterhaltung der Verbindung zu den Göttern mit Hilfe aufwendiger Rituale.

Die Religion hat auch sonst alle Aspekte des Lebens der Mexica durchdrungen, die überzeugt waren, in einem labilen Kosmos zu leben, dessen Existenz ganz vom Wohlwollen jenseitiger Mächte abhing. Deutlich wird das schon an der komplizierten Mythologie, mit der sie die Entstehung der Welt und die Abfolge bestimmter Phasen der Schöpfung erklärten. Ein Konzept, das in Paris gekonnt mit Hilfe moderner Präsentationstechnik anschaulich gemacht wird. Im Zentrum der Ausstellung stehen allerdings Ritualgegenstände und Kunstwerke, die selbst dann faszinierend wirken, wenn man sie nicht im Detail versteht oder sie den Betrachter irritieren.

Fraglos gehört es zu den Verdiensten der Pariser Ausstellung, die verstörenden Aspekte der Kultur der Mexica nicht auszublenden, und es ist keine Effekthascherei, wenn am Eingang zu bestimmten Räumen Warnhinweise angebracht sind. Das gilt etwa für den, der die Skelette von 42 Kindern präsentiert, die offenbar als besonders wertvolle Opfergabe den Göttern dargebracht wurden, und deren Überreste man in einem Erweiterungsbau des Tempels gefunden hat. Aufgrund der Beigaben, mit denen sie bestattet wurden, etwa dem Federschmuck an ihren Schultern, vermutet man, daß sie als Entsprechungen der „Tláloque“ – der kleinen Regengottheiten der Mexica – galten und die Tränen, die sie vergossen, wenn man sie erwürgte, als Sinnbild der Regentropfen verstanden wurden. 

Es handelte sich selbst im Rahmen des Kultes der Mexica um ein außergewöhnliches Vorgehen, das vielleicht durch die Verzweiflung über die Dürrekatastrophe des Jahres 1454 ausgelöst wurde. Die Kinder dürften außerdem den Familien der Oberschicht der Mexica angehört haben. Das unterscheidet sie von der großen Masse der Geopferten, deren Schädel oder Skeletteile bei den Ausgrabungen gefunden wurden. Vielfach waren es junge Männer, etwa Kriegsgefangene, die man als „nextlahualtin“ – „Bezahlung“ darbrachte. Ein Priester schnitt ihnen mit einem Obsidianmesser bei lebendigem Leib das Herz heraus und bot es der Sonne dar, um sie zu nähren und ihre zyklische Wiederkehr zu garantieren. 

Die Mexica haben zwar auch Tiere und aufwendig verzierte Gegenstände geopfert, aber von zentraler Bedeutung für ihren Glauben waren doch die Exzesse an Menschenopfern. Man muß unwillkürlich an Thomas Manns Urteil denken, daß Kultur manchmal nichts anderes als „stilvolle Wildheit“ ist. Was nicht gegen ihre ästhetischen Qualitäten oder ihre Überlebenskraft spricht – vielleicht im Gegenteil. Im Schlußteil der Ausstellung geht es jedenfalls darum, ob heute noch etwas von der Überlieferung der Mexica weiterlebt. Die Frage ist sicher zu bejahen, wenn man die Menge an Hinweisen auf lebendiges Traditionswissen betrachtet und die Volksfrömmigkeit, in der sich nach der Christianisierung viele heidnische Vorstellungen und Praktiken erhalten haben, entweder indem man sie „taufte“ oder indem man heimlich den alten Göttern Opfer brachte und weiter bringt.


Die Ausstellung „Mexica – Des dons et des dieux au Templo Mayor“ wird bis zum 8. September im Pariser Museum Quai Branly gezeigt. Alle Ausstellungsstücke sind mit Hinweisschildern in französischer, englischer und spanischer Sprache versehen. Eintritt: 14 Euro. Der empfehlenswerte Katalog (gebunden, 256 Seiten, durchgehend farbig illustriert, 38 Euro) liegt allerdings nur in französischer Sprache vor.

 www.quaibranly.fr

Foto: Krug mit dem Gesicht des Wettergottes Tláloc, Opfergabe 21: Die Religion hat alle Aspekte des Lebens der Mexica durchdrungen