© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/24 / 07. Juni 2024

Das Kalifat ist nicht die Lösung
Publizistik: Über den politischen Islam und seine scheiternden Versuche, in der Türkei die kulturelle Hegemonie zu erringen
Dirk Glaser

Seit ihrem Sieg bei den Parlamentswahlen im November 2002 behauptet die „Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) Recep Tayyip Erdoğans in der Türkei ihre Macht. Trotzdem hadert ihr Vorsitzender und „ewiger“ Staatspräsident mit den Zuständen in seinem Reich, weil seine Partei, die ihren stärksten Rückhalt im so konservativen wie rückständigen,  70 Prozent der Gesamtbevölkerung umfassenden Teil der türkischen Gesellschaft hat, keine kulturelle Hegemonie ausübt.    

Dabei habe es nicht an Kraftanstrengungen gefehlt, um sie zu erringen, wie der marxistische Philosoph Sinan Özbek (Universität Kocaeli) berichtet, der nicht weniger als vier Anläufe (Das Argument, 342/2023) zählt, die im vergangenen Vierteljahrhundert darauf abzielten, die politisch-soziale Ordnung der Türkei an den verinnerlichten kulturellen Werten und Normen des Islam auszurichten. Den ersten Anlauf unter der Parole „Wir wollen religiöse Generationen erziehen“ starteten bereits Parteien, die im weitesten Sinne als AKP-Vorläufer einzustufen sind und die sich seit den 1920er Jahren nie mit der Transformation des Osmanischen Kalifats in einen laizistischen Nationalstaat abfanden. 

Um den Säkularisierungsprozeß zumindest abzubremsen, duldete selbst die kemalistische Republikanische Volkspartei mit ihrem sozialdemokratischen Flügel seit den 1950ern die Wiedereinrichtung von Imam-Hatip-(Vorbeter-Prediger-) Schulen, um Geistliche unter staatlicher Kontrolle auszubilden. Daran knüpften Erdoğans Bildungsminister, von denen er bisher acht „verbrauchte“, unmittelbar an: Zwischen 2002 und 2019 erhöhte sich deren Zahl von einigen hundert auf 5.138. Waren es einst Berufsschulen für künftige Imame, wurden sie nun zur Säule eines dem politischen Islam verpflichteten Bildungssystems. Parallel dazu vermehrten sich die theologischen Fakultäten an türkischen Hochschulen rasant. Während es 1997 nur 17 und 2011 erst 22 gab, waren es 2020 stolze 105 mit 127.000 Studenten. Da es unmöglich war, diese am Bedarf vorbei produzierte Masse als Theologen unterzubringen, empfahl Diyanet, die höchste Religionsbehörde, ihnen einen Wechsel ins Lehramt, wo Zehntausende Stellen offen sind: „Der Job, der auf dich wartet“.

Niemanden erstaunte daher, als derart mit unqualifiziertem Personal geflutete Schulen im Pisa-Test 2018 auf Platz 31 im Wettbewerb der 37 OECD-Staaten landeten. Und von diesem gravierenden Niveauverlust profitierte die angestrebte Vermittlung dominanter islamischer Werte gerade nicht. Im Gegenteil: Statistiken belegen, wie sich heute der Deismus unter jungen Türken ausbreite, weil sie die große Kluft erleben zwischen dem, was der politische Islam sagt, und dem, was er tut. Er verspreche Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit, Wohlstand, bringe aber nicht nur unter Erdoğans Kuratel „Ungerechtigkeit, Armut, rücksichtslosen Nepotismus, Plünderung der Ressourcen, Naturzerstörung und mehrdimensionale Korruption“.

Auf dem Feld der Medienpolitik vollzog sich der zweite Anlauf zur islamisch inspirierten Zeitenwende. So wurde Hürriyet, die größte Zeitung des Landes, 2018 von regierungsnahen Investoren gekauft und mutierte wie eine Reihe von TV-Sendern, wo mit dem Besitzerwechsel „mittelmäßige AKP-treue Kader“ in die Redaktionen einzogen, zu Erdoğans Propagandaschleuder. Doch die Auflage von Hürriyet sank seit der Übernahme von 288.000 auf 185.000 (2021), und regierungsfrommen Nachrichtenkanälen laufen soziale Medien den Rang ab. Auch mit verschärfter Kontrolle und Instrumentalisierung der Medien habe der politische Islam also keine Übermacht über die Zivilgesellschaft hergestellt.

Auch an Universitäten geht es um Treue zur politischen Macht

Ebenso frustrierend falle die Bilanz für den dritten Vorstoß aus, auf akademischem Terrain, wo ruppige Personalpolitik weltanschauliche Konformität erzeugen sollte. Darum werden Universitätsrektoren heute nicht mehr gewählt, sondern vom Staatspräsidenten ernannt. Insoweit gilt am Bosporus wieder, was Martin Heidegger nach der nationalsozialistischen Aufhebung der Hochschulautonomie ins Freiburger Rektorat hievte: das „Führerprinzip“. So gehe es auch bei der Besetzung der Leitungsebene der Dekane und Institutsdirektoren weniger um wissenschaftliche Eignung als um „Treue zur politischen Macht“. Entsprechend rekrutierten türkische Universitäten ihre Dozenten nach deren politischer Orientierung – worunter die Qualität von Forschung und Lehre leide. Das zeige sich vor allem dort, wo man hoffte, den politischen Islam am leichtesten etablieren zu können: an den seit 2002 neu gegründeten 124 Universitäten. Aber die Mehrheit davon verfügt über kein ausreichend geschultes Personal und folglich stehen türkische Universitäten, von denen nur eine zu den Top 500 des QS World University Ranking zählt, im internationalen Hochschulranking ganz unten. Die Unterschreitung akademischer Standards der alten Universitäten, von denen es 2002 nur 76 gab, sei an den neuen die Regel, weil ihr Führungs- und Verwaltungspersonal primär auf die Gebote des Islam und nicht aufs wissenschaftliche Ethos vereidigt sei.

Schließlich wirft Özbek noch einen Blick auf den vierten Vorstoß zur Erringung kultureller Hegemonie, den das Amt für religiöse Angelegenheiten (Diyanet) organisiert, eine Behörde mit 100.000 Mitarbeitern. Deren Leitungsstab habe das Amt seit 2002 umgebaut, um es dem arabischen Islam näher zu rücken. Damit könne aber die Massenbasis des politischen Islam in der Türkei nicht erweitert werden, die sich zusammensetzt aus jenen kulturell rückständigen, einen synkretistischen „Bauern-Islam“  vertretenden Bevölkerungsteilen, die seit den 1960ern aus Anatolien in die Großstädte gezogen sind. Ein weltanschaulich-religiös hegemonialer Konsens dürfte sich auf so porösem Boden kaum entwickeln.

Mit dem marxistischen Theoretiker Antonio Gramsci, dem Erfinder des Konzepts der kulturellen Hegemonie, sieht Özbek die eigentliche Crux des politischen Islam darin, daß  Religion generell kein einheitliches Weltbild und damit keine politisch-soziale Ordnung stiften könne. Für die europäische Religionsgeschichte ist das seit der Reformation, die die Einheit des abendländischen Christentums sprengte, offensichtlich. Für den Islam genügt es Özbek, auf die Freund-Feind-Beziehung zwischen Schiiten und Sunniten sowie auf die explodierende Zahl dschihadistischer Splittergruppen hinzuweisen. Denn auch der Islam ist vom modernen Virus des Relativismus schon befallen, der gesetzmäßig im weltanschaulichen Pluralismus endet. Um kulturelle Hegemonie zu behaupten, bliebe ihm nur die Option, eine Diktatur zu errichten. Aber selbst in seiner orientalischen Ursprungsregion ist heute nicht „das Kalifat die Lösung“. 

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