© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/24 / 07. Juni 2024

Ein „antiweißer“ Zugriff auf Franz Kafkas Erzählung „In der Strafkolonie“
Gewaltlust und Faszination der Folter

Die 1914 entstandene, 1919 erstmals veröffentlichte Erzählung „In der Strafkolonie“ ist vom Großbetrieb der Kafka-Forschung lange nur als weniger beachtliches Seitenstück zum thematisch verwandten Romanfragment „Der Prozeß“ behandelt und theologisch oder philosophisch als Parabel von der „menschlichen Daseinsschuld als Totalschuld“ (Wilhelm Emrich) verschwurbelt worden. Erst die Monographie des Germanisten Walter Müller-Seidel („Die Deportation des Menschen“, 1986) erschloß die ganze Breite der zeitgenössischen rechts- und verwaltungspolitischen Debatten, die der Jurist Kafka als Hintergrundwissen speicherte und in diese Erzählung einspeiste, die ihm zum „Röntgenbild der modernen, vermeintlich demokratischen, humanen Gesellschaft gerät, deren kapitalistische Methoden restloser Ausschöpfung der Arbeitskraft sich zu einer Strafmaschinerie zusammenschließen, welche ihre Opfer lebenslang abtötet“. Auf dem Weg zur abermaligen Enthistorisierung des Textes drängt Iris Därmann diese harte Systemkritik nun zugunsten einer Lesart zurück, die der Autor gar nicht anbietet. Die Professorin für Kulturtheorie mit Schwerpunkt „Gewaltforschung“ (HU Berlin), die 2023 ein Buch über „Sadismus mit und ohne Sade“ veröffentlichte, will  damit die „Strafkolonie“ als Kommentar zur „kolonialen Gewaltlust“ für den „antiweißen“ postkolonialen Diskurs vereinnahmen. Denn Kafka versetze uns hier in die Position von sadistischen Zuschauern und konfrontiere uns „mit unserer eigenen Faszination an der ausgefeilten Folter in der Strafkolonie“ (Philosophie-Magazin, Sonderausgabe Nr. 29/2024). (dg)