Der Schriftsteller Stefan Heym (1913–2001), ein harter Kritiker der SED-Führung, den die Stasi scharf im Blick hatte und der 1989 zu den führenden Bürgerrechtlern zählte, kandidierte bei den Bundestagswahlen zur allseitigen Verblüffung für die PDS, und zwar aus Zorn über die Art und Weise der Wiedervereinigung, insbesondere über die Praktiken der Treuhand. Vom CDU-Politiker Johannes Gerster (1941–2021), dem zur Cholerik neigenden stellvertretenden Vorsitzenden der Bundestagsfaktion der Union, in einer Talkshow zur Rede gestellt und mit der Frage konfrontiert, wie das denn wohl gewesen wäre, wenn nicht die Bundesrepublik, sondern die DDR den Systemwettbewerb gewonnen hätte und die Wiedervereinigung nach ihren Regeln verlaufen wäre, antwortete Heym gelassen: „Das kann ich ich Ihnen sagen: Zwei Drittel der Bonner Politiker wären mit wehenden Fahnen zur SED übergelaufen.“ Volltreffer. Gerster verschlug es die Sprache. Schade nur, daß Heym die bundesdeutsche Zivilgesellschaft außer Betracht gelassen hatte.
Die Probe aufs Exempel blieb den Politikern und Zivilgesellschaftlern damals erspart. Heute holt der Islam ihre Bewährungsprobe nach. Die Reaktionen beziehungsweise Nichtreaktionen auf die beiden Kundgebungen von „Muslim Interaktiv“ in Hamburg sind lehrreich. Zunächst demonstrierten rund 1.000 Moslems unter dem Motto „Kalifat ist die Lösung“. Das war eine unzweideutige Aussage. Wer das Kalifat will, der will weder Rechtsstaat noch Demokratie, der will die Gewaltenteilung, die liberalen Freiheitsrechte, die Trennung von Staat und Religion abschaffen. Beim nächsten Mal bezifferte die Polizei die Teilnehmerzahl auf etwa 2.300. Laut Tagesschau galten diesmal jedoch „strenge Auflagen“. Unter anderem sei es den „Teilnehmenden“ verboten worden, ein Kalifat in Deutschland zu fordern. Außerdem war ihnen die Geschlechtertrennung untersagt.
Die Geschlechtertrennung wurde tatsächlich vermieden, indem „die Teilnehmenden“ ausschließlich aus Männern bestanden, aus überwiegend jungen Männern, die nichts anderes sein wollen als eben das: Männer. Plakate, auf denen das Kalifat gefordert wurden, waren jetzt nicht mehr nötig. Die Akteure wissen um den Zusammenhang von Strategie und Taktik und klinkten sich geschickt teils in den Menschenrechtsdiskurs ein: Sie protestierten gegen „koloniale Meinungsdiktatur“ und bekundeten auf Plakaten: „Andersdenken nicht in Deutschland“, „Muslime schweigen nicht“ oder „Ideen sind verbotssicher“. Wer wollte da widersprechen? Die eigentliche Aus- und Ansage aber war ihre körperliche Präsenz, von der eine kompakte Virilität und beeindruckende Kraft ausging.
Es mag ja sein, daß man solche teils offenen, teils camouflierten Feinderklärungen an die Grundordnung im Land nicht verbieten kann und sie, wie der FDP-Justizminister Marco Buschmann meinte, als Teil des geistigen Meinungskampfes ertragen müsse. Andererseits ist die behördliche Rücksichtnahme erstaunlich, wenn man bedenkt, wieviel Erfindungsreichtum die staatlichen und semistaatlichen Institutionen entwickeln, wenn es darum geht, identitäre, querdenkerische. konservative oder rechte Veranstaltungen zu ver- oder behindern. In Hamburg reichte die unfeine Bezeichnung des Innensenators als „Pimmel“ bereits aus, um bei deren Verursacher eine Hausdurchsuchung anzuordnen.
Wenn Staat und Politik sich aus formalen Gründen zum Handeln außerstande sehen, steht gewöhnlich die Zivilgesellschaft als Kampfreserve bereit. Doch die erwies sich als Totalausfall. Keine Omas, die Trillerpfeifen gegen das Kalifat zückten; keine Kirchenglocken, die zum inneren Frieden mahnten; keine Verdi-Faust, die die kampfbereite Entschlossenheit der Demokraten signalisierte.Und wo waren die Parteien, die demokratischen, die beim eingebildeten Kampf „gegen Rechts“ Hunderttausende auf die Beine bringen? Sie alle zogen, bildlich gesprochen, den Schwanz ein. Die paar Gegendemonstranten, die es gab, waren Einzelkämpfer.
Ein Redner auf der ersten Kundgebung hatte eine deutliche Warnung ausgesprochen: „Deutschland, Politik und Medien, ihr solltet euch wohlbedacht positionieren – gegenüber Muslimen, Islam und Allah! Denn werden die Karten neu gemischt und der schlafende Riese erwacht, werdet ihr zur Rechenschaft gezogen.“ Eine klare Ansage, die den skandalisierten Allerweltspruch, den Alexander Gauland an die Regierung richtete: „Wir werden sie jagen“, allemal übertrifft. Doch die Warnung war gar nicht mehr nötig, sie war schon verinnerlicht, noch ehe sie ausgesprochen wurde. Die etablierten Medien verzichteten darauf, sie zu zitieren, um sich nicht in Widersprüchen und kognitiven Dissonanzen zu verheddern. Sie laufen noch nicht, aber sie schleichen sich bereits davon und arrangieren sich in der Vorahnung: Genauso wird es wohl kommen.
Um so lauter wird jetzt getrommelt, gegen den AfD-Parteitag Ende Juni in Essen das berüchtigte „breite Bündnis“ zu schmieden. Die AfD ist die einzige Partei, die die Masseneinwanderung, die dem islamistischen Begehren den demographischen Schub verleiht, offen kritisiert – und damit das Appeasement der gratismutigen Demokraten stört.
Der Islam-Experte Hans-Peter Raddatz hat die Asymmetrie im Dialog zwischen dem Islam und dem säkularen Westen nachvollziehbar beschrieben: Der glaubensstrenge Moslem ist auf seine religiöse Identität festgelegt, die seine Lebensführung unter ein strenges Regelwerk stellt. Kritik daran bedeutet für ihn eine existentielle Verletzung. Der Westler hingegen erprobt variierende Lebensentwürfe und kann bei Verletzung in andere Rollen schlüpfen – ein Ausweg, den der Moslem nicht hat. In diesem Muster wird Islam-Kritik zur rassistischen Hetze und die verordnete multikulturelle Toleranz zu einem einseitigen Geschäft. Es entsteht ein machttechnisches Gefälle, das die Verhältnisse allmählich zum Kippen bringt.
Natürlich gibt es in Deutschland viele Moslems, die dreimal am Tag Allah dafür danken, in einem Land zu leben, in dem der Glaube Privatsache ist. Aber Umfragen in Schulen in Niedersachsen haben ergeben, daß rund zwei Drittel der befragten muslimischen Schüler den Satz bejahen: „Die Regeln des Korans sind mir wichtiger als die Gesetze in Deutschland.“ Mehr als ein Drittel hält Gewalt gegen Kritiker ihrer Religion für berechtigt.
Was ist das ganze Integrationsgeschwätz demnach wert? Blicken wir in das 2009 erschienene Buch „Crossover Geschichte“, das Aufsätze von Sozial- und Bildungsforschern über das Geschichtsverständnis von Jugendlichen in der Einwande-rergesellschaft versammelt. Dort liest man von der Erziehungswissenschaftlerin Viola B. Georgi, die 2003 „herausarbeiten“ konnte, daß jugendliche Migranten die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit als „Entrebillet“ in die Mehrheitsgesellschaft betrachten und meinen, eine „fundierte Haltung gerade zu diesem Teil der deutschen Vergangenheit entwickeln zu müssen“. Was mitunter so weit gehe, „daß sie sich selbst für die NS-Zeit mitschuldig fühlen“. Abgesehen von der verrückten Annahme, daß ein Nachgeborener, ob deutsch oder ausländisch, sich für NS-Verbrechen „mitschuldig“ zu fühlen hat, gilt frei nach Wilhelm Busch: „Malik und Hedi denken froh: ‘Altes Mädchen, träumst du so??’“
Zum Lachen ist das trotzdem nicht, denn solcher Stuß hat über die Jahrzehnte Hirnwindungen und Kommunikationskanäle verklebt. Die einen wurden zum Selbsthaß, die anderen zur Heuchelei veranlaßt, was dazu geführt hat, daß es heute in Teilen des Landes gar keine Mehrheitsgesellschaft mehr gibt und deren Überreste als „Nazi-Kartoffel“ paralysiert sind. Frau Georgi aber hat sich zur Professorin für Diversity Education und Direktorin des Zentrums für Bildungsintegration sowie als gefragte „Expertin“ für alles mögliche qualifiziert.
Immerhin, am Tag der zweiten Kundgebung, am 11. Mai, hielt der Wertewesten dagegen und unterbreitete den Alt- und Neubürgern auf großer Bühne sein neuestes Identitätsangebot. Zwar nicht in Hamburg, sondern in Malmö, wo ein spezieller Migrationsdruck, wie Alain Finkelkraut kürzlich klagte, die Juden zum Verschwinden veranlaßt. Beim Eurovision Song Contest tanzte der (die? das?) nonbinäre Nemo auf schwankendem Grund im rosa Fummel und zirpte: „I broke the code, whoa-oh-oh / Somewhere between the O’s and ones / That’s where I found my kingdom come“. Ach, Nemo, es zerbrechen längst ganz andere Codes, und vor dem regenbogenfarbenen Königsreich, in dem alle Menschen sich pansexuell in die Arme fallen, steht das Kalifat. Dort braucht man nicht mal mehr überlaufen, sondern wird mit harter Hand integriert.