Schweigend stehen Menschen vor dem Marktbrunnen in der Innenstadt von Mannheim. Ihre Gedanken sind erfüllt von Trauer. Es ist Sonntagabend. Seit wenigen Stunden herrscht traurige Gewißheit. Rouven L., ein 29 Jahre alter Polizeibeamter, ist tot. Gestorben durch das Kampfmesser des Afghanen und mutmaßlichen Islamisten Suleiman Ataee.
Der 25jährige hatte am vergangenen Freitag um 11.35 Uhr mit jenem Messer einen Anschlag auf den Infostand der islamkritischen Bürgerbewegung Pax Europa (BPE) verübt. Sein Ziel: Michael Stürzenberger (59), den er mit sieben Stichen verletzt. Drei weitere BPE-Mitglieder werfen sich dem Angreifer entgegen, wollen ihn aufhalten. Ataees Messerklinge bohrt sich auch in ihre Körper, verletzt sie mehrfach, möglicherweise dauerhaft.
Chaos, Kampfgetümmel, umgekippte Plakatschilder. Jemand brüllt: „Nehmt ihm das Messer weg!“ Für den Bruchteil einer Sekunde gelingt es den BPE-Mitgliedern, den Angreifer zu fixieren. Dann reißt er sich wieder los, läuft auf Rouven L. zu, sticht zweimal auf den Beamten ein, trifft Hals- und Kopfbereich. Ein Kollege von L. hat seine Dienstpistole in Anschlag gebracht, schießt. Der Angreifer sackt zusammen, ist endlich außer Gefecht gesetzt. Eine Frau schreit verzweifelt: „Wir brauchen einen Arzt!“
Die Schreckensbilanz des Anschlags: Sieben Verletzte. Stürzenberger, drei weitere BPE-Mitglieder, Polizist Rouven L., der Attentäter, den die Kugel in den Bauch trifft. Und ein weiterer Mann, um den es in den folgenden 48 Stunden viel Verwirrung geben wird. Doch dazu später mehr.
Daß die Öffentlichkeit Zeuge dieser Szenen wird, ist Oliver Zimmer zu verdanken. Zimmer filmt den Infostand, inklusive des Angriffs. „Ich habe das aus einem inneren Impuls heraus getan“, sagt er, als sich die JF mit ihm fast auf die Minute genau einen Tag nach der Tat auf dem Marktplatz trifft.
Der islamistische Attentäter war ein abgelehnter Asylbewerber
Am Tatort sind bereits erste Blumen niedergelegt, Kerzen für die Opfer aufgestellt. Zwischen zwei der Kerzen ist ein weißes Blatt Papier geklemmt. „Gegen Terror“ und „Solidarität für die Opfer“ steht darauf. „Wann hört der Haß endlich auf?“ steht auf einem anderen Zettel.
In einem Café, etwas abseits vom Marktbrunnen setzt sich die JF mit Zimmer zusammen. Noch einmal zeigt er uns die Ausschnitte aus seinem Videofilm auf seinem Mobiltelefon, beschreibt die Vorgänge.
„Wir wollen gerade anfangen, unsere Hymne abspielen, ich gehe mit der Kamera noch einmal rum, so wie wir das immer machen“, beginnt Zimmer. Kurz vor der Tat zeigt das Video noch Menschen, die sich am Infostand Flyer abholen. Plötzlich Geräusche von umfallenden Plakatständern. Der Beginn des Angriffs: „Hier passiert das gerade“, zeigt Zimmer. „Ich gehe da hin, wie ich immer hingehe, wenn was passiert“, erklärt er. Dann: Schreie. Das Video zeigt Ataee und Stürzenberger am Boden. Zimmer steht unmittelbar daneben, tritt geistesgegenwärtig mit dem Fuß nach dem Attentäter, filmt weiter. „Totaler Wahnsinn“, sagt er nur, während er der JF die dramatischen Momente zeigt.
Zimmer zeigt auf jenen unbekannten Mann, der eine blaue Jacke trägt. „Das war ein Unterstützer, der wollte den Attentäter befreien“, meint er. Die Aussage läßt aufhorchen. Hatte der 2013 eingereiste Islamist einen Helfer? Zu diesem Zeitpunkt kursieren in den sozialen Medien bereits die wildesten Gerüchte. Statt sich den Attentäter zu greifen habe die Polizei zunächst ein BPE-Mitglied überwältigt, lautet eines davon.
Daß dem nicht so war, zeigt Zimmer in seinem Video. Er zeigt auf ein BPE-Mitglied, das einen blauen Pullover trägt. „Viele dachten, daß er es sei, der von der Polizei umgeworfen wurde, aber das ist er nicht.“ In der Szene ist zu sehen, daß der Ordner bereits eine Einstichwunde am unteren linken Bein hat. Dann schwenkt die Kamera auf eine zweite Person in gleichfarbiger Jacke. Der Mann schlägt mit der Faust auf BPE-Mitglieder ein, versucht den Täter zu befreien, ehe er von der Polizei umgeworfen wird.
Wer ist dieser Mann? Ein Komplize des laut seinen Dokumenten 25jährigen Angreifers? Anruf bei Michael Stürzenberger im Krankenhaus. Der 59jährige befindet sich zu diesem Zeitpunkt bereits auf dem Weg der Besserung, ist ansprechbar (siehe Randspalte). „Ich glaube, der Mann hatte die Lage einfach falsch eingeschätzt. Er kam von einer Bushaltestelle angelaufen und wollte vermutlich nur helfen. Leider hatte er dann den Täter unterstützt“, erzählt der 59jährige.
Unterdessen bleiben vor dem Marktbrunnen immer wieder Menschen stehen, halten inne, legen weitere Blumen, Kerzen oder kleine Zettel mit Botschaften nieder. Wenige Meter daneben hat sich ein 35jahriger Mann mit einem beigefarbenen Plakat postiert, das einem Ortsschild ähnelt. Darauf das Wort „Demokratie“, darunter durchgestrichen „Islamismus.“ Der Mann, der seinen Namen nicht in den Medien erwähnt sehen möchte, will mit seiner Aktion ein Signal setzen. „Es wird weitergehen, und es wird schlimmer werden“, zeichnet er ein düsteres Bild von Deutschlands Zukunft.
Gemeinsam mit Christoph Helmchen, einem Bundesvorstandsmitglied der BPE, will Oliver Zimmer ein verletztes Vereinsmitglied im Krankenhaus besuchen. „Die Opfer sind in unterschiedliche Hospitäler eingeliefert worden“, erklärt Helmchen. Wir fahren mit. Im Krankenhaus kurze Rücksprache der beiden mit dem Opfer, ob die JF ihm Fragen stellen darf. Wir dürfen. Aber der Mann möchte anonym bleiben, das ist der Deal.
„Es ist schon traurig, daß man sich so verstecken muß“, entschuldigt sich der Angegriffene. „Aber ich möchte nicht, daß irgendwelche Salafisten meine Familie bedrohen.“
Womit er bereits seinen Verdacht beschreibt, um wen es sich bei dem Täter handeln könnte. „Ich bin mir hundert Prozent sicher, das war ein Salafist.“ Er habe den Attentäter beobachtet, der sei zuvor immer wieder um den Stand gelaufen. „Wir kennen das von anderen Veranstaltungen. Sie tänzeln dann so um uns herum.“ Zumeist bleibe es dabei. Doch dieser ursprünglich abgelehnte Asylbewerber stach zu.
„Der hat auf den richtigen Moment gewartet, der war voll auf Michael fokussiert.“ Gemeint ist Michael Stürzenberger. „Man hat klar gemerkt, das waren geübte Bewegungen, die der Täter ausführte. Das waren gerade, zielgerichtete und eingeübte Stiche.“ Er ist sich sicher: „Der wollte töten.“ Daß der Attentäter allein gehandelt oder psychisch labil gewesen sei, glaube er nicht. Auch bezweifele er, daß der Täter nur aus eigenem Antrieb gehandelt hat. „Ich bin mir sicher, daß da ein Salafisten-Netzwerk hintersteckt.“
„Wer ein Leben rettet, rettet die ganze Welt.“
Tatsächlich deuten nicht nur die antrainiert wirkenden Bewegungsabläufe darauf hin, daß der Attentäter über Kampferfahrung verfügt. So taucht etwa in den Siegerlisten des Taekwondo-Vereins Bergstraße Bensheim e.V. der Name „Sulaiman Ataee“ auf. Im Jahre 2013 ist er dort als Goldmedaillengewinner des internationalen Rheinland-Pfalz-Pokals vermerkt, ein Jahr später als Gewinner der Bronze-Medaille bei der Hessenmeisterschaft. Beides in der Disziplin Vollkontakt.
Bensheim ist eine Kleinstadt im südhessischen Kreis Bergstraße. Jener Landkreis, in dem auch zu dieser Zeit der Attentäter wohnte, der im März 2013 als Minderjähriger mit seinem Bruder nach Deutschland gekommen war. Sollte es sich bei dem Sportler tatsächlich um den Täter handeln, wäre das eine Erklärung für die eingeübten, zielgerichteten Kampfaktionen. In Bensheim machte er 2017 auch einen erweiterten Hauptschulabschluß, trotzdem sein Asylantrag bereits 2014 abgelehnt wurde. Die Ausländerbehörde erläßt für ihn aufgrund seines Alters aber ein Abschiebeverbot. Ataee ist inzwischen Vater zweier in Deutschland geborener Kinder. Als Sorgeberechtiger erhält er 2023 Bleiberecht.
Inzwischen hat der Generalbundesanwalt Jens Rommel hat das Verfahren gegen ihn an sich gezogen. Laut Spiegel begründet der oberste deutsche Ankläger das Vorgehen damit, daß er die Tat als „religiös motiviert“ einstuft. Diese sei geeignet, die innere Sicherheit zu gefährden, heißt es trocken im Beamtendeutsch. Fotos zeigen laut Welt, wie sich Ataee mit Beginn der Corona-Zeit deutlich veränderte. Vor allem habe er sich den in islamistischen Kreisen üblichen Vollbart wachsen lassen. Eine erste Spur für eine Radikalisierung findet sich bei Youtube allerdings schon aus dem Jahr 2016. Daß der Generalbundesanwalt nun tätig wird, ist eine erste Bestätigung für den Verdacht des Islamismus.
Das Opfer zeigt der JF ein Foto von seinem Oberschenkel unmittelbar nach der Tat. Die Einstichwunde ist deutlich zu erkennen, die Jeans dunkelrot gefärbt vom Blut. Jetzt verläuft eine große Narbe über seinen Oberschenkel. „Ich habe Schwein gehabt“, sagt er. Nur wenige Zentimeter hätten gefehlt und die Hauptschlagader wäre getroffen worden. „Zwei Zentimeter höher oder tiefer und das wäre mein Ende gewesen“, erklärt der Mann, wie haarscharf er mit dem Leben davongekommen ist.
Rouven L., hatte weniger Glück. Als sich die JF am Krankenbett des BPE-Mitglieds befindet, liegt der Polizist bereits im künstlichen Koma. Bis Sonntagnachmittag herrscht Ungewißheit über Leben und Tod jenes Mannes, der versuchte, die Lage wieder unter Kontrolle zu bringen. Um 17.03 Uhr hört sein Herz auf zu schlagen.
Spontan versammeln sich noch am Abend zahlreiche Menschen vor dem Marktbrunnen. Blumen und Kerzen haben sich nochmals vermehrt. Auch weitere Zettel mit neuen Botschaften. „Wer Polizisten angreift, greift uns alle an!“, lautet eine davon. Eine andere findet sich in einem Blumenstrauß. „Unvergessen“, steht da nur. Zudem Respektbekundungen für Rouven L.. „Wer ein Leben rettet, rettet die ganze Welt“, heißt es in einem Spruch, verbunden mit dem Appell: „Halte durch!“
Rouven L. konnte nicht mehr durchhalten, zu schwer waren die Verletzungen. Polizisten versammeln sich vor dem Marktbrunnen, erweisen dem verstorbenen Kollegen die letzte Ehre. Immer wieder kommen neue Leute mit Blumen und Kerzen, harren aus in der einsetzenden Abenddämmerung. Die Gesichter ernst und traurig zugleich. Bedrückende Stille. Einige fassen sich an den Händen, andere umarmen sich. Und manche fangen einfach an zu weinen. Neue Zettel mit neuen Botschaften kommen hinzu. Jetzt verbunden mit der Gewißheit des Todes. Eine davon umfaßt drei Worte: „Freund, Helfer, Held.“
Fotos: Zeuge Oliver Zimmer zeigt und beschreibt der JF den Tathergang: Der Täter war in seinen Augen kampferprobt und fixiert auf sein Ziel, zu töten. Der Zeuge glaubt, der Angreifer sei ein islamistischer Extremist. / Anschlagsziel Stürzenberger: „Mohammed ließ Kritiker töten“ / Blumen und Kränze erinnern in Mannheim an den toten Polizisten