© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/24 / 07. Juni 2024

Ideenlos an die Macht
Europawahl: Für den Urnengang am Sonntag werben CDU und SPD mit Nicht-Kandidaten – und die AfD wirbt nicht für Kandidaten
Christian Vollradt

Von Diplomatie keine Spur im Urteil des früheren Außenministers: „Das ist der langweiligste Europawahlkampf, den ich je erlebt habe“, ätzte Sigmar Gabriel (SPD) jüngst auf einer Podiumsdiskussion in seiner niedersächsischen Heimat. Die Slogans findet der Polit-Rentner „öde und beliebig“, was die Parteien da so ablieferten grenze an „Politikverweigerung“. Seine eigenen Genossen mit ihren „Frieden sichern, SPD wählen“-Plakaten nahm er von dem Vorwurf nicht aus. Tatsächlich steht der auf den Werbetafeln abgebildete Olaf Scholz als selbsternannter „Friedenskanzler“ am kommenden Sonntag gar nicht zur Wahl. 

Damit freilich steht er nicht allein. Auch die CDU wirbt mit Prominenten, die nicht auf dem Wahlzettel stehen: Parteichef Friedrich Merz und Ursula von der Leyen. Über die Wiederwahl der EU-Kommissionspräsidentin entscheiden die Wähler am kommenden Sonntag allenfalls mittelbar. Während Rote und Schwarze also für Leute werben, die nicht kandidieren, agiert die AfD quasi spiegelbildlich: bei ihr kandidieren an der Spitze der Wahlliste mit Maximilian Krah und Petr Bystron zwei, für die ihre eigene Partei offiziell nicht – mehr – wirbt (JF 16 und 23/24). 

Kuli und Papier sind bester Schutz gegen Hacker

Programmatisch wird jenseits der kleineren bis exotischen Parteien (JF 22/24) durch die Bank tatsächlich viel Altbekanntes serviert. Für ein Europa, das „Frieden, Wohlstand und Sicherheit“ garantiert, spricht sich die Union aus, die laut Umfragen als stärkste Kraft in Deutschland hervorgehen wird. Außerdem auf der Agenda: eine EU-Verteidigungsgemeinschaft zu schaffen. Die AfD setzt mit Karl-der-Große-Büste auf die „Festung Europa“ als Bollwerk gegen illegale Migration. Auch wenn im aktuellen Programm der Begriff Dexit nicht vorkommt, wirbt die Partei für das „Zukunftsprojekt einer neuen europäischen Wirtschafts- und Interessengemeinschaft“. Solange aber „die Fehlkonstruktion EU fortbesteht, werden wir uns dafür einsetzen, weitere Einschränkungen der nationalen Souveränität und weitere Umverteilungen von Wohlstand und Vermögen unserer Bürger durch EU-Regelungen zu verhindern“.  

Die SPD, die in den Umfragen ungefähr gleichauf mit der AfD liegt, sieht die bevorstehende Europawahl als „Richtungswahl” gegen Rechts. „Gegen Haß und Hetze“ lautet eines ihrer Mottos auf den Plakaten. Es gehe darum, die Demokratie gegen die inneren und äußeren Feinde zu stärken. Auch die Grünen mobilisieren dafür, daß „Europa demokratisch bleibt“ und plakatieren eine Abwandlung des Anfangs der deutschen Nationalhymne: „Einigkeit gegen Rechts für Freiheit“. Außerdem plädiert die Öko-Partei für den Green Deal und einen europaweiten Mindestlohn. 

„Echten“, sozialverträglichen Klimaschutz schreibt sich die Linkspartei auf die Fahnen, das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) wirbt mit viel Wagenknecht-Bildern (wobei auch dieses Zugpferd nicht nach Europa reiten möchte) – und verspricht den Wählern „Frieden statt Krieg“ bzw. „Überholspur statt Ampel“. Die FDP wiederum setzt auf Bürokratieabbau und „Wirtschaftswunder“. Spitzenkandidatin Marie-Agnes Strack-Zimmermann kokettiert mit ihrer Rolle als polarisierende Reizfigur und verabschiedet sich nach sieben Jahren aus dem Bundestag Richtung Brüssel. Man solle gehen, wenn es am schönsten ist, meinte die 66jährige vergangene Woche vor der Hauptstadtpresse; sie sei dankbar für die Zeit in Berlin. Nicht wenige Parteifreunde dort sind eher dankbar, daß sie nun geht. Denn trotz magerer Umfragewerte unter fünf Prozent ist „Oma Courage“ ein Sitz im EU-Parlament sicher. Insgesamt müssen die Ampel-Parteien mit einer Denkzettel-Wahl rechnen. Die prozentual größten Verluste werden voraussichtlich die Grünen, die großen „Absahner“ des Jahres 2019, erleiden. 

In mehreren Bundesländern ist eine Art „Superwahltag“, denn es finden noch eine Reihe von Kommunalwahlen statt. So können die Bürger in Baden-Württemberg, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, im Saarland, Sachsen und Sachsen-Anhalt am Sonntag darüber bestimmen, wen sie in die Vertretungen von Stadt, Gemeinde und Kreis entsenden. Auch in Hamburg werden die Bezirksabgeordneten gewählt. In Thüringen finden in einigen Kreisen und Städten Stichwahlen über Landräte und Bürgermeister statt, wenn vor zwei Wochen kein eindeutiger Sieger feststand. Außer in Rheinland-Pfalz, Sachsen und im Saarland gilt bei den Kommunalwahlen ebenfalls das niedrigere Wahlalter von 16 Jahren. 

Daß dies mit der Europawahl zusammenfällt, ist nicht ungewöhnlich und durchaus beabsichtigt. Auf diese Weise lassen sich Kosten und Aufwand reduzieren, Wahlhelfer und Wähler müssen nur einmal ins Wahllokal, außerdem erhofft man sich dadurch wohl auch eine Steigerung der – gewöhnlich etwas niedrigeren – Wahlbeteiligung beim Urnengang für das EU-Parlament. 

Während vor allem in den östlichen Bundesländern die AfD damit rechnen kann, zahlreiche kommunale Mandate zu erringen, tat sich die Partei im Südwesten teilweise schwer, überhaupt Kandidaten für ihre Listen zu finden. In Sachsen, einer „blauen“ Hochburg, bekommt die AfD Konkurrenz nicht nur vom neuen Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), sondern auch von weiter rechts, durch die Freien Sachsen. 

Ein länderübergreifendes Phänomen sind die zahlreichen verschiedenen örtlichen Wählergemeinschaften, die neben den Parteien Mandate in den kommunalen Vertretungen erobern wollen und sich als bürgernahe Alternative präsentieren. In Baden-Württemberg findet die Wahl in einigen Regionen mitten in der aktuellen Hochwasserlage statt, die in diesem Bundesland bisher mindestens zwei Menschen das Leben kostete. In Rheinland-Pfalz ist es die erste Kommunalwahl nach der verheerenden Flutkatastrophe im Ahrtal von 2021.

Generell steht mit Blick auf den anstehenden Wahlsonntag auch das Thema Sicherheit wieder im Raum. In der Öffentlichkeit oder den sozialen Netzwerken äußern die einen ihre Sorge vor Manipulationen bei der Auszählung, andere fürchten Einmischungen von außen. Die Bundeswahlleiterin gibt in beiden Richtungen Entwarnung. So habe man bisher nichts bemerkt, was auf eine Desinformationskampagne schließen lasse. Auch würden die mehr als eine halbe Million Wahlhelfer – offiziell genannt wird die Zahl von 675.000 – für einen ordnungsgemäßen Wahlablauf sorgen. Sie seien verpflichtet, „ihre Aufgaben unparteiisch wahrzunehmen“. Zusätzlich wurden Wahlvorstände geschult, wie sie mit möglichen Störungen umgehen sollen. Bundeswahlleiterin Ruth Brand betont zudem, daß der „Grundsatz der Öffentlichkeit“ alle Schritte der Wahl und der Ermittlung des Wahlergebnisses transparent mache.

Auch das Bundesamt für die Sicherheit in der Informationstechnik schätzt die Wahlen hierzulande als sicher ein. Die digitale Übermittlung der vorläufigen Wahlergebnisse könne zwar „wie jeder digitale Prozeß mit Gefährdungen verbunden sein“, man ergreife aber Maßnahmen zur Absicherung, „die zudem einer ständigen Prüfung unterzogen werden“, teilte ein Sprecher der Behörde auf Anfrage der JUNGEN FREIHEIT mit. Das amtliche Endergebnis der Wahlen sei aber „als sicher einzustufen, aufgrund der Ermittlung des Ergebnisses anhand der auf Papier erstellten Niederschriften“. Am Ende sind Kuli und Zettel eben der beste Schutz gegen Hacker.  

Grundsätzlich können EU-Bürger entweder in dem Staat wählen, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen oder sich auf Wunsch stattdessen in dem Mitgliedsstaat ins Wählerverzeichnis eintragen lassen und an der Wahl teilnehmen, in dem sie wohnen. „Dabei gilt, daß Wahlberechtigte nur ein Mal und nur in einem Land an der Wahl teilnehmen dürfen.“ Mittlerweile hätten sich, betont die Bundeswahlleiterin, die Mitgliedstaaten über die in Wählerverzeichnisse eingetragenen Unionsbürger besser ausgetauscht, um eine mehrfache Eintragung zu verhindern. Auch für Personen mit doppelter Staatsangehörigkeit zweier EU-Länder gilt das Verbot der mehrfachen Stimmabgabe. Wer in Deutschland gegen dieses Verbot verstößt, macht sich nach dem Strafgesetzbuch wegen Wahlfälschung strafbar.

Der Chefredakteur der Zeit, Giovanni di Lorenzo, hatte nach der Europawahl vor zehn Jahren offen zugegeben, zweimal gewählt zu haben: einmal als deutscher Staatsbürger in einem Hamburger Wahllokal und einmal als Italiener im Konsulat des Landes in der Hansestadt. Das anschließend gegen ihn deswegen eingeleitete Verfahren sei wegen geringer Schuld und gegen eine „namhafte“ finanzielle Auflage vorläufig beendet worden. Jüngere Fälle, in denen es zu einer strafrechtlichen Verfolgung wegen einer doppelten Stimmabgabe gekommen wäre, sind der Bundeswahlleiterin nicht bekannt, teilte einer ihrer Mitarbeiter bei einer Pressekonferenz in Berlin jüngst mit.


Wahlberechtigt schon  ab 16

Am Sonntag stehen 33 Parteien und sonstige politische Vereinigungen mit einer gemeinsamen Liste für alle Bundesländer und zwei Parteien mit Listen für einzelne Bundesländer (die CDU mit je einer Liste für 15 Länder und die CSU mit einer Liste nur für Bayern) auf dem Wahlzettel. Die Reihenfolge der Listen ist unterschiedlich, je nachdem, wie die Parteien in dem Land 2019 abgeschnitten haben. Insgesamt 1.413 Kandidaten – mehr als je zuvor – stellen sich zur Wahl für die 96 Deutschland zustehenden Sitze (von insgesamt 720) im Europäischen Parlament. Eine Sperrklausel gibt es nicht. Vor fünf Jahren reichten gut 240.000 Stimmen (rund 0,7 Prozent) für ein Mandat. Erstmals dürfen dieses Mal junge Leute ab 16 Jahren an einer bundesweiten Wahl teilnehmen. Damit gibt es etwa 1,4 Millionen Wahlberechtigte mehr. Unter den rund 64,9 Millionen Wahlberechtigten befinden sich bis zu 5,1 Millionen potentielle Erstwähler. Die Wahlbeteiligung lag 2019 bei 61,4 Prozent. Das vorläufige amtliche Ergebnis der Europawahl, bei der hierzulande die Wahllokale wie üblich bis 18 Uhr geöffnet sind, während sie in Italien erst um 23 Uhr schließen, dürfte am frühen Montagmorgen feststehen. (vo)