© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/24 / 07. Juni 2024

„Konservative Allianz für Europa“
Interview: Mario Fantini, Chefredakteur des „European Conservative“, über die Euro-Rechte vor der EU-Wahl
Moritz Schwarz

Herr Fantini, stehen wir mit den Europawahlen vom 6. und 9. Juni vor einem historischen Wendepunkt? 

Alvino-Mario Fantini: Da wäre ich mir nicht so sicher. Ich bin da weit vorsichtiger als viele der enthusiastisch optimistischen Beobachter um mich herum. 

Warum? Die Umfragen deuten einen massiven Rechtsruck in mehreren wichtigen europäischen Ländern an.

Fantini: Weil wir schon oft an diesem Punkt waren – und immer enttäuscht wurden. 

Inwiefern? 

Fantini: Trotz der Siege der Konservativen in einer Reihe von EU-Ländern im Laufe der Jahre, trotz der gewonnenen Parlamentssitze, national und auf EU-Ebene, hat sich kaum etwas wirklich verändert. Wir Konservativen haben nichts bewahrt.

Warum nicht? 

Fantini: Dafür gibt es zwei Gründe: Es hat nie einen wirklichen, dauerhaften Rechtsruck gegeben. Und selbst wenn es Wahlsiege gab, haben sie sich nur selten in echten konservativen Fortschritten niedergeschlagen.

„Die Aufgabe der Rechten ist es, die Menschen aufzuklären“

Aber nun werden sich laut Prognosen nicht nur die rechten Mehrheiten in Italien, Finnland und Ungarn halten, sondern auch in Frankreich, Holland, Belgien, Österreich und Portugal konservative und rechte Erfolge die linken oder christdemokratischen der Europawahlen von 2019 ersetzen. Und in Spanien gewinnt die konservative Volkspartei, ebenso wie die rechte Vox, stark hinzu. 

Fantini: Ich würde widersprechen, wenn Sie die Volkspartei „konservativ“ nennen. Ich würde auch davor warnen, sich zu sehr auf empirische Beweise zu verlassen oder den Wechselfällen der Wahlpolitik zu viel Bedeutung beizumessen. Nicht nur, daß Umfragen zunehmend ungenau sind, es ist auch unmöglich, tatsächlich festzustellen, warum Menschen so wählen, wie sie es tun. Wir von The European Conservative ziehen es vor, den politischen Kampf auf eine zusätzliche Weise zu betrachten: wir dringen tiefer und schauen uns die kulturellen und geistigen Grundlagen an, auf denen die Nationen aufgebaut sind, und die Mentalitäten, Stimmungen und Gefühle der Menschen von heute.

Und was sehen Sie da? 

Fantini: Ich sehe eine Menge Wut und Frustration, ich sehe wachsende populistische Ressentiments, sowohl auf der Rechten als auch auf der Linken, die schließlich zu disruptiven sozialen Bewegungen und neuen politischen Parteien führen könnten.

Ist nicht normal, daß viele Bürger aus Frustration rechts wählen? Es gibt zwar konservative Kernwähler, aber man braucht auch Wechselwähler, um zu gewinnen – und die sind nie in der Wolle gefärbt.

Fantini: Das Problem, das ich mit Ihrer Charakterisierung habe, ist, daß sie sich zu sehr auf die Wahlpolitik konzentriert. Die wichtigsten politischen Veränderungen gehen immer auf Disruptionen zurück, also auf die Infragestellung etablierter Institutionen und Systeme durch informelle und oft unorganisierte soziale Bewegungen und politische Akteure. Diese brechen hervor, trotzen dem Establishment und fordern Veränderungen. Wir müssen uns diese wachsende Dynamik zu eigen machen und sie in konservative Bahnen lenken. Gleichzeitig sollte die Rechte nicht den Fehler machen, Stimmungen mit Überzeugungen zu verwechseln. Wir wissen, daß die meisten Menschen keine durchgängig konservativen Überzeugungen haben. Genau deshalb muß sich die Rechte kurzfristig darauf konzentrieren, aus der sich ändernden und sich entwickelnden Stimmung der Wähler Kapital zu schlagen. Deren Stimmung und Gefühle sind zunehmend von Ernüchterung und Enttäuschung geprägt, und die Rechte tut gut daran, diese Gefühle zu respektieren, anzuerkennen und sehr hart daran arbeiten, auf ihnen aufzubauen. Vor allem aber sollte sie sich nicht auf ihren Lorbeeren ausruhen, nur weil Analysten und Experten einen „massiven Rechtsruck“ vorhersagen. Sie haben vorhin Spanien erwähnt. Erinnern Sie sich daran, daß die spanischen Konservativen vor den Parlamentswahlen im letzten Jahr ziemlich siegessicher waren?

Ja, die Ablösung der linken Regierung von Pedro Sánchez schien wahrscheinlich.

Fantini: Richtig. Und bis zu einem gewissen Grad glaube ich, daß dies die Konservativen in der Annahme eines leichten Sieges veranlaßt hat, sich ein wenig zu sehr zu entspannen. Das Ergebnis war vorhersehbar: der Volkspartei und Vox fehlten am Ende vier Sitze zur Regierungsbildung. Es geht mir nicht darum, Optimismus schlechtzureden, sondern darum, den Sieg nie als selbstverständlich anzusehen und dazu zu ermutigen, egal was passiert härter und ausdauernder zu kämpfen!

Und zwar wie? 

Fantini: Eine der Aufgaben der Rechten ist es, die Menschen darüber aufzuklären und zu informieren, wie die Dinge wirklich sind. Je mehr die Wähler über die Korruption und die Machenschaften der herrschenden Eliten erfahren, desto mehr werden sie mobilisiert – und sie werden Maßnahmen ergreifen, um diese Eliten von der Macht zu entfernen. Wir sollten nicht vergessen, daß die etablierten Politiker und die Mainstreammedien alles tun, um die Realität vor den Menschen zu verbergen – die Realität der Einwanderung, der Kriminalität und der Unsicherheit, der strukturellen wirtschaftlichen Probleme. Würden die Wähler zum Beispiel die volle Wahrheit über die Islamisierung Deutschlands erkennen, wäre die AfD schon längst in der Regierung. 

Dem rechten Trend dieser Europawahl stehen nur drei westeuropäische Länder entgegen: Dänemark und Schweden werden wohl links wählen, und in Deutschland werden die Christdemokraten siegen, die je nach Umfrage bei 29 beziehungsweise 30 Prozent stehen und mit enormem Abstand gegenüber SPD, Grünen und AfD führen, die zwischen 13 und 16 Prozent liegen. Warum ist Deutschland so anders? 

Fantini: Erstens ist es völlig unfähig, sich gegen die tief verwurzelte Macht, die die progressive Linke über die kulturellen, medialen und politischen Institutionen des Landes hat, zu wehren. Zweitens macht das Erbe der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts ein energisches, sich selbst hinterfragendes Nachdenken darüber, wie man im 21. Jahrhundert vorankommt, unmöglich. Was wir jedoch in Dänemark und Schweden beobachten, ist, daß die „Mitte“ bei einem Thema nach rechts gerückt ist, das andere europäische Länder immer noch nicht angehen wollen: die Migration. Egal, wer gewinnt, es wird keine Rolle spielen: Die Kulturrevolution schreitet voran, und niemand wird in der Lage sein, sich ihr mit herkömmlichen politischen Mitteln zu widersetzen. 

Sie haben eingangs zwei Gründe genannt, warum sich trotz rechter Wahlsiege in Europa kaum etwas geändert hat. Der eine Grund ist also, daß gelegentliche Wahlsiege nie von langer Dauer oder nachhaltig waren sowie selten in wirkliche konservative Regierungsführung mündeten. Was aber ist der zweite Grund? 

Fantini: Das ist die Unfähigkeit oder der Unwille vieler größerer rechter Parteien, in dem Maße zu kooperieren, wie es notwendig wäre. Denken Sie an die Haltung von Marine Le Pen und ihres Rassemblement National gegenüber rechten Parteien in anderen Ländern. 

Sie meinen die Distanzierung von der AfD?

Fantini: So etwas ist eine Schande und im Hinblick auf einen langfristigen Sieg der Konservativen ein strategischer Fehler. Leider ist es fast schon üblich, daß sich eine Gruppe oder Partei innerhalb der Rechten von einer anderen distanziert – aus übertriebener Sorge, mit „Extremisten“ beziehungsweise politisch Unkorrekten oder jenen, die nicht woke genug sind, in Verbindung gebracht zu werden. Solange wir dies nicht überwinden, wird es uns nicht gelingen, die breite abendländische, grenzüberschreitende Allianz zu bilden, die wir brauchen, um Europa politisch zu retten. 

„Die Linke hat das demokratische System gekapert“

Warum verhält sich Le Pen – und auch Meloni – so?

Fantini: Das ist eine gute Frage, denn es ist frustrierend zu sehen, was sie tun. Ich weiß, daß viele Beobachter denken, daß sie pragmatisch handeln – nach dem alten Sprichwort, daß Politik die Kunst des Möglichen ist. Was sie aber tatsächlich tun müßten, wäre die Nase einmal ins Strategiehandbuch Donald Trumps zu stecken – wie der Autor Todd Huizinga in seinem 2017 erschienenen Buch „Was Europa von Trump lernen kann“ argumentiert. Zugleich muß die Rechte von der Linken lernen, die über Partei- und nationale Grenzen hinweg zusammenarbeitet und deren Erfolgsgeheimnis ist, die eigene Seite nie anzugreifen, sich nicht von ihren freimütigeren Fraktionen zu distanzieren, sich nicht gegen andere Linke zu stellen. In ähnlicher Weise müssen wir die Rechte vereinen – und uns auf unseren gemeinsamen Feind konzentrieren. 

Ist der völlige Verzicht auf politische Distanzierung nicht realitätsfremd? Warum sollten sich zum Beispiel Rechte, die eine Veränderung innerhalb des demokratischen Systems erstreben, und die, die das System abschaffen wollen, nicht gegenseitig voneinander distanzieren? Schließlich haben sie kein gemeinsames Ziel, sondern erstreben sich widersprechende Dinge.

Fantini: Weil das ganze System korrupt ist. Wie die Ereignisse in den USA und Großbritannien, in Finnland und Italien, in Spanien und Deutschland zeigen, ist das demokratische System und seine Organe von der progressiven Linken gekapert worden. Wissen Sie, wer den Bezug zur Realität verloren hat? Jeder, der glaubt, daß er so konventionell, unkontrovers und schmackhaft wie möglich sein muß, um gewählt zu werden. Seit 2016 haben die politischen Ereignisse gezeigt, daß der „disruptive Konservatismus“, für den ich eintrete – denken Sie an den Brexit, Trump, Bolsonaro, Orbán, Wilders etc. –, besser abschneidet. Und ich sage voraus, daß führende Politiker, die es wagen, dem System zu trotzen, die sich weigern, „business as usual“ zu betreiben, auch künftig besser abschneiden werden. Bis sie die nötigen Schocks und Erschütterungen des Systems erzeugen können, um einen echten Wandel herbeizuführen. Das wird nicht dieses Jahr sein, aber es wird kommen. 

Ohne Le Pen und Melonis Verhalten rechtfertigen zu wollen, aber wenn sich zu distanzieren eine unwirksame Strategie ist, warum wird sie dann so oft praktiziert? Demnach wären Le Pen, Meloni oder Orbán schlechte Strategen. Wie aber paßt das dazu, daß sie die erfolgreichsten rechten Parteien in Europa führen? 

Fantini: Erstens machen Sie einen Fehler, wenn Sie Orbán in dieselbe Kategorie wie Le Pen und Meloni stecken: Sie sind sehr unterschiedlich. Zweitens frage ich mich, wie genau Sie den Erfolg messen? Denn die meisten meiner Freunde in Frankreich stehen fest im Lager von Éric Zemmour und nicht von Marine. Drittens mag es sein, daß die Taktik, sich von den politischen Extremen zu distanzieren, ihnen zugute kommt – aber nicht der kulturellen Sache, die die Rechte vertritt. Viertens können die verschiedenen Krisen des Westens nicht mehr nur auf nationaler Ebene bekämpft werden: Während wir die nationale Souveränität verteidigen, müssen wir auch Wege suchen, um international zu arbeiten. 

Ihre Zeitschrift will der europäischen Rechten eine gemeinsame Stimme geben. Worin sieht sie deren weltanschauliche und politische Gemeinsamkeit?

Fantini: The European Conservative wurde 2008 von Mitgliedern des Center for European Renewal in Amsterdam gegründet, das das jährliche „Vanenburg-Treffen“ organisiert. Von Anfang an hat sie der Ideenwelt große Bedeutung beigemessen, insbesondere den Quellen des Westens: der griechisch-römischen und jüdisch-christlichen Tradition der europäischen Zivilisation. Sie hat auch die Bedeutung des „humanen Lernens“ hervorgehoben, das heißt einer Bildung, die sich durch das Streben nach einem ganzheitlichen und geordneten Wissen, den Artes liberales und der Hervorbringung von Denkern, Schöngeistern und Intellektuellen auszeichnet. 

Das ist sehr abstrakt. Wie definiert „The European Conservative“ die europäische Rechte konkret?

Fantini: Was „die europäische Rechte“ ist, läßt sich nicht mit ein, zwei Sätzen zusammenfassen. Viel einfacher ist es zu sagen, was sie nicht ist: Wie der verstorbene österreichische Denker Erik von Kuehnelt-Leddihn schrieb, ist die Rechte die „Abwesenheit oder das Gegenteil“ von linken Prinzipien wie etwa Materialismus, Zentralisierung, Totalitarismus, Militarismus, Monolithismus. Und ich möchte behaupten, daß die wahre europäische Rechte – die wirklichen Konservativen – oft nicht jene sind, die sich so bezeichnen. Immer wieder haben sogenannte „konservative“ Parteien, die sich manchmal „Mainstream-Konservative“ nennen, die konservative Sache verraten. Dieses nominell „konservative“ Establishment in vielen Ländern – etwa die britischen Tories, aber auch bei der Mehrheit der europäischen Volksparteien – ist ein großes Problem für uns alle: Dieser „konservative“ Mainstream gibt vor, wichtige traditionelle Werte zu vertreten und nationale Interessen zu verteidigen. Wenn aber die Stunde der Wahrheit kommt und sie ins Amt gewählt sind, neigen sie dazu, diese Werte aufzugeben und konservative Interessen zu verraten.

Welchen Rat haben Sie für die deutsche Rechte?

Fantini: Ich glaube, es gibt eine Art „Fetischisierung“ des Staates unter den deutschen Konservativen und damit die Unfähigkeit oder den Unwillen, eine Reduzierung des Staates zu fordern oder auch nur darüber zu diskutieren – ja eine Verringerung seiner Macht auch nur zu erwägen! Ich vermute, daß Sie jetzt kontern werden: „Kein Wunder, daß Fantini den Staat kritisiert, schließlich ist er in den USA geboren, wo eine ganz andere politische Tradition als bei uns vorherrscht.“

So ist es. 

Fantini: Das wäre ein Fehler, denn meine Haltung beruht auf der Lektüre vieler europäischer Staatskritiken und auf der simplen Erkenntnis, daß der moderne technokratische Staat heute im gesamten Westen ganz anders ist als das, was er vor hundert Jahren war (oder sein sollte) und daß er einfach nicht in der Lage ist, mit den heutigen Herausforderungen fertig zu werden. Der argentinische Präsident Javier Milei hat das sehr gut verstanden und führt eine Gegenrevolution gegen das korrupte System an, das während der peronistischen Ära errichtet wurde. Ich glaube, daß sich die Deutschen – um ihr Land wirklich zu reformieren, das eher mit kulturellen und gesellschaftlichen Problemen, als mit solchen wirtschaftlicher Natur konfrontiert ist – früher oder später ebenfalls einer solchen Gegenrevolution unterziehen müssen. 




Alvino-Mario Fantini ist seit 2012 Chefredakteur des Magazins The European Conservative mit Sitz in Wien, das vierteljährlich erscheint. Er schrieb auch für  The American Conservative, Newsweek oder die Europa-Ausgabe des Wall Street Journal. Geboren wurde der Journalist und Kommunikationsberater 1968 im US-Bundesstaat Vermont. 

www.europeanconservative.com