Achtung, nicht setzen“, ruft die ältere Dame. Und weil ich ratlos blicke, schiebt sie nach: „Dort ist alles schmutzig.“ Ich schaue hin, und wahrlich muß jemand den halben Sitz mit etwas verschmiert haben. Knoblauchsoße, Erbrochenes oder beides zusammen. Man muß in der S-Bahn immer wachsam sein.
Nun bewege ich mich zu den Klappsitzen links der Dame. Doch wieder ruft sie: „Vorsicht“. Denn es kleben große Joghurt- oder Mayonnaise-Flecken auf dem Boden. So lasse ich mich drei Sitze rechts der Frau nieder, kurz zögernd und lauschend, ob sie wieder eine Vorwarnung auszusprechen beabsichtigt. Während ich auf einen am Boden der anderen Waggonseite abgestellten halbleeren Smoothie-Becher schaue, komme ich mit ihr ins Gespräch.
Deutschland lebe nur noch von seinem Ruf, sagt die Frau, ihre Tochter sei nach Japan ausgewandert.
Die Verwahrlosung in Deutschland werde immer schlimmer, sagt sie. Der Müll, der Schmutz, das Benehmen der Leute, all das wäre vor 20 Jahren noch besser gewesen. Seit dreißig Jahren lebe sie in Deutschland, erzählt sie. Sie stamme aus Venezuela, wo die Verhältnisse durch das linke Chavez-/Maduro-Regime mittlerweile unerträglich geworden seien. Züge führen dort ohne Türen. Die Preise seien dort so hoch wie in Deutschland, aber manche Menschen müßten von 100 Euro Monatsverdienst leben, was sie nur durch Kleingärten und Tauschhandel könnten.
Ich rücke neben sie, denn es wird laut im Waggon. Drei überdrehte schwarze Halbstarke schreien vor uns angeberhaft herum, bis sie von zwei türkischen Fahrkartenkontrolleuren beim Schwarzfahren erwischt werden.
„Deutschland lebt noch vom Ruf der Vergangenheit“, erzählt die Dame weiter. Wenn aber Leute aus dem Ausland herkämen und die Realität sähen, seien sie erschrocken, fährt sie fort. Ihre Tochter habe nicht mehr bleiben wolleh und sei nach Japan ausgewandert. Dort lebten auch sehr viele Menschen, aber alles sei sicher, sauber und funktioniere perfekt. Niemand lasse dort in der Bahn Müll und Dreck herumliegen. Dann muß sie aussteigen, und ich rufe ihr ein „Adios“ hinterher.
Hoffentlich wird es nicht so schlimm, wie es schon ist.
Karl Valentin (1882–1948)